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Die Arbeiten des Herkules, Seite 93 ff. (engl.)
das menschliche Wesen befindet. Der Mensch ist ein Tier, und gemeinsam mit dem Tier besitzt er die Qualität des Instinktes und der instinktiven Reaktion auf seine Umgebung. Instinkt ist das Bewusstsein der Form und des Zellenlebens, der Gewahrseinsmodus der Form, und deshalb beansprucht Artemis, der Mond, der über die Form herrscht, das heilige Reh. An dem ihm zukommenden Platz ist animalischer Instinkt ebenso göttlich wie jene anderen Qualitäten, die wir im strengen Sinn als geistiger betrachten.

Aber der Mensch ist auch ein menschliches Wesen. Er ist rational, er kann analysieren, kritisieren, und besitzt jenes Etwas, das wir das Denkvermögen nennen. Ausserdem besitzt er jene Fähigkeit intellektueller Wahrnehmung und Reaktion, die ihn vom Tier unterscheidet und ihm ein neues Feld der Wahrnehmung eröffnet, das aber trotz allem nur eine Erweiterung seines Reaktionsapparates und die Weiterentwicklung des Instinkts in den Intellekt ist. Durch ersteren nimmt er die Welt physischer Kontakte und emotionaler Zustände wahr, durch letzteren die Welt der Gedanken und Ideen, und ist so ein menschliches Wesen. Hat er das Stadium intelligenter und instinktiver Wahrnehmung erreicht, wird er von Eurystheus darauf hingewiesen, dass es noch eine andere Welt gibt, die er gleichfalls wahrnehmen kann, die aber ihre eigenen Kontaktmethoden und ihren eigenen Reaktionsapparat besitzt.

Diana, die Jägerin, beansprucht das Reh, denn für sie ist das Reh der Intellekt, und der Mensch der grosse Sucher, der grosse Jäger vor dem Herrn. Aber das Reh hat noch eine andere und schwerer fassbare Form, und nach dieser suchte Herkules, der Aspirant. Während eines ganzen Lebenszyklus jagte er danach, wie uns gesagt wird. Es war nicht das Reh als der Instinkt, nach dem er Ausschau hielt, noch war das Reh als Intellekt das Ziel seiner Suche. Es war etwas anderes. Und um diesem Anderen nachzujagen, verwandte er einen ganzen Lebenszyklus. Wir erfahren, dass er das Reh schliesslich fing und in den Tempel trug, wo es vom Sonnengott gefordert wurde, der in dem Reh die geistige Intuition erkannte, jene Bewusstseinserweiterung und den höchstentwickelten Wahrnehmungssinn, der dem Jünger eine Vision neuer Kontaktbereiche vermittelt und ihm eine neue Daseinswelt eröffnet. Wie uns erzählt wird, geht der Kampf noch weiter zwischen Apollo, dem Sonnengott, der das Reh als Intuition erkannte, und der Himmelsjägerin Diana, die wusste, dass es der Intellekt war, und schliesslich der Mondgöttin Artemis, die glaubte, es sei nur der Instinkt. Beide fordernden Göttinnen haben in gewisser Weise recht; und es ist das Problem des Jüngers, den Instinkt an dem ihm angestammten Platz korrekt und in rechter Weise zu benutzen. Er muss lernen, den Intellekt unter dem Einfluss Dianas, der Tochter der Sonne zu gebrauchen, und durch ihn mit der Welt der menschlichen Ideen und des menschlichen Wissensdrangs in Verbindung zu sein. Er muss lernen, diese seine Fähigkeiten in den Tempel des Herrn zu tragen, die dortige Umwandlung in Intuition zu erleben, und vermittels der Intuition die Dinge des Geistes wahrzunehmen, jene geistigen Wirklichkeiten, die weder Instinkt noch Intellekt ihm enthüllen können. (Wieder und wieder müssen die Söhne der Menschen, die auch die Söhne Gottes sind, diese geistigen Wirklichkeiten erneut erproben, auf dem nicht endenden Weg).

Die fünfte Arbeit

Das Erschlagen des Nemeischen Löwen

(Löwe, 22. Juli - 21. August)

Die Sage

Der Grosse Eine, der den Vorsitz führt, sass in der Ratshalle des Herrn und beriet den Plan Gottes für alle Menschensöhne, die auch die Söhne Gottes sind. Der Lehrer stand zu seiner Rechten und lauschte seinen Worten. Und Herkules ruhte von seinen Mühen aus.

Der grosse Eine Ratsvorsitzende in der Ratshalle des Herrn betrachtete den ermüdet ruhenden Krieger und beobachtete seine Gedanken. Dann sagte er zum Lehrer, der dicht an seiner Seite stand in der Ratshalle des Herrn: Die Zeit für eine gefürchtete Aufgabe rückt jetzt heran. Dieser hier, der ein Sohn der Menschen und doch ein Sohn Gottes ist, muss vorbereitet werden. Lass' ihn die Waffen sorgsam prüfen, die ihm zu eigen sind. Den Schild muss gut er reiben, bis er glänzt, die Pfeile in die Todeslösung tauchen, denn furchtbar und gefährlich ist die Arbeit, die nun kommt! Lass' ihn sich vorbereiten.

Doch Herkules, der nach den grossen Mühen ruhte, kannte die Prüfung nicht, die vor ihm lag. Er fühlte seinen kühnen Mut. Er ruhte sich von seiner Arbeit aus, und immer wieder jagte er das heilige Reh hinter dem vierten Tor geradewegs zum Tempel des Herrn. Die Zeit kam, wo das scheue Reh den Jäger gut kannte, der es verfolgte. Es folgte zahm auf seinen Ruf. So nahm es Herkules wieder und wieder an sein Herz und suchte den Tempel des Herrn. So ruhte er.

Bis an die Zähne bewaffnet mit allen Gaben des Krieges und des Kriegers stand Herkules vor dem fünften Tor. Und als er so stand, sahen die zuschauenden Götter seinen festen Schritt, sein kühnes Auge und seine rasche Hand. Doch tief in seinem Herzen waren Fragen. «Was tu' ich hier,» so sagte er, «was ist die Prüfung und wozu versuche ich durch dieses Tor zu schreiten?» Und während er so sprach wartete er, lauschend auf eine Stimme. «Was tu' ich hier, o Lehrer meines Lebens, bewaffnet, wie du siehst, in voller Kriegsausrüstung? Was tu' ich hier?»

«Ein Ruf ist ausgegangen, o Herkules, ein Ruf aus tiefer Not. Dein äuss'res Ohr hat nicht auf diesen Ruf geachtet. Und doch, dein inn'res Ohr kennt gut die Not, denn es hat eine Stimme gehört, ja, viele Stimmen, die dir von dieser Not erzählen und dich zum Weitergehen treiben. Die Leute von Nemea suchen deine Hilfe. Sie sind in tiefer Trübsal. Der Ruf von deinem Mut ist weit hinausgedrungen. Sie bitten dich, dass du den Löwen tötest der ihr Land verwüstet und Menschenopfer reisst.»

«Ist das der wilde Ton, den ich nun höre?» frug Herkules. «Ist es das Brüllen eines Löwen, das ich höre in der Abendluft?» Der Lehrer sagte: «Geh» suche den Löwen, der das Land verwüstet, das jenseits des fünften Tores liegt. Das Volk dieses verwüsteten Landes lebt still hinter verschlossenen Türen. Sie wagen nicht mehr, ihren Pflichten nachzugeh'n, noch ihre Äcker zu bestellen oder zu säen. Von Nord bis Süd, von Ost bis West jagt der Löwe, und raubend erfasst er alle, die seinen Weg durchkreuzen. Sein schreckliches Gebrüll ist durch die ganze Nacht zu hören, und alle zittern hinter fest verschloss'nen Türen. Was wirst du tun, o Herkules? Was wirst du tun?»

Und Herkules, mit lauschendem Ohr, reagierte auf die Not. Diesseits des grossen Tores, welches das Land Nemea fest beschützte, liess er die ganze Kriegsausrüstung fallen, behielt für den Gebrauch nur seinen Bogen und die Pfeile. «Was tust du jetzt, o Sohn der Menschen, der gleicherweise ein Sohn Gottes ist? Wo sind die Waffen und die starke Wehr?» «Dies stattliche Gehäng' von Waffen drückt mich nieder, verzögert meine Eile und hindert meinen Aufbruch auf den Weg. Sende den Leuten von Nemea jetzt die Botschaft, ich sei auf meinem Weg. Und bitte sie, ganz ohne Furcht zu sein.»

Von Ort zu Ort wanderte Herkules und suchte den Löwen. Er fand die Leute von Nemea, die sich hinter verschlossenen Türen verbargen, ausser einigen wenigen, die sich aus Verzweiflung oder Not hinauswagten. Sie gingen auf der Landstrasse im Tageslicht, aber voller Furcht. Zuerst begrüssten sie Herkules mit Freude und dann mit ängstlichen Fragen, als sie die Art seines Wanderns sahen, ohne Waffen oder viel Kenntnis über die Gewohnheiten des Löwen, mit nichts als einem Bogen und Pfeilen. «Wo sind deine Waffen, o Herkules? Hast du denn keine Furcht? Warum suchtest du den Löwen ohne Mittel der Verteidigung? Geh', hole deine Waffen und den Schild! Der Löwe ist wild und stark, und Zahllose hat er verschlungen. Warum so viel riskieren? Geh', suche deine Waffen und deine Ausrüstung der Stärke.» Aber ruhig, ohne Antwort, ging der Sohn der Menschen, der ein Sohn Gottes war, vorwärts auf seinem Weg, die Spur des Löwen suchend und seiner Stimme folgend.

«Wo ist der Löwe?» frug Herkules. «Hier ist der Löwe,» kam die Antwort. «Nein, dort!» befahl eine Stimme der Furcht. «Nicht so,» antwortete eine dritte, «ich hörte wild sein Brüllen über dem Berg in dieser Woche,» «und ich, ich hört' es auch, gleich hier, in diesem Tal, hier wo wir stehen!» Und wieder eine andre Stimme sagte: «Ich sah doch seine Spuren auf dem Weg den ich ging. So höre meine Stimme, Herkules, verfolge ihn zu seinem Lager!»

So verfolgte Herkules seinen Weg, furchtsam und doch ohne Furcht, allein und dennoch nicht allein, denn auf der Spur die er verfolgte standen andere und folgten ihm voll Hoffnung und zitternder Angst. Tagelang und durch mehrere Nächte suchte er den Weg und lauschte auf des Löwen Brüllen, während das Volk von Nemea hinter verschlossenen Türen kauerte.

Plötzlich sah er den Löwen. Er stand am Rand eines tiefen Dickichts junger Bäume. Als er den Feind nahen sah, und einen, der ganz furchtlos schien, brüllte der Löwe und die jungen Bäume bebten bei seinem Brüllen, die Nemeer flohen und Herkules stand still. Er fasste seinen Bogen und die Pfeile, und schoss mit sicherer Hand und geübtem Auge einen Pfeil nach der Schulter des Löwen. Genau flog er ins Ziel, doch fiel er auf die Erde, denn er konnte in die Schulter des Löwen nicht eindringen. Wieder und wieder schoss Herkules auf den Löwen, bis kein Pfeil mehr in seinem Köcher war. Dann kam der Löwe auf ihn zu, unberührt und unverwundet, und wild vor Zorn. Ganz furchtlos. Den Bogen auf die Erde werfend stürzte der Sohn der Menschen, der ein Sohn Gottes war, mit wildem Schrei dem Löwen entgegen, der auf dem Pfad stand und ihm den Weg versperrte, erstaunt über die Tapferkeit, die ihm bisher noch nicht begegnet war. Denn Herkules kam näher. Plötzlich wandte sich der Löwe um und sprang vor Herkules in das Dickicht am felsigen Rand eines steilen Bergwegs.

So ging die Verfolgung weiter. Und plötzlich, im Weitergehen auf dem Weg, verschwand der Löwe und war nicht mehr zu sehen und zu hören.

Herkules hielt inne auf dem Pfad und stand still. Er suchte nach allen Seiten, fasste fester seine starke Keule, die selbstgeschaffene Waffe, die Gabe, die er sich selbst vermacht hatte in lang vergangenen Tagen - seine sichere Keule. Nach allen Seiten suchte er; auf jedem Seitenweg, weiter, von einem Punkt zum nächsten auf dem schmalen Pfad, der steil den Berghang querte. Plötzlich kam er an eine Höhle und aus der Höhle kam ein starkes Brüllen, eine rasselnd wilde Stimme, die nun zu sagen schien: «Steh still, oder verlier dein Leben!» Und Herkules stand still und rief dem Volk des Landes zu: «Der Löwe ist hier! Erwartet meine Tat, die ich jetzt tue.» Und Herkules, ein Sohn der Menschen und doch ein Gottessohn, betrat die Höhle, ging durch die ganze dunkle Länge bis in das Licht des Tages. Er fand keinen Löwen, nur eine andre Öffnung in der Höhle, die in das Licht des Tages führte. Und als er dastand hörte er den Löwen hinter sich, nicht vorne.

«Was soll ich tun», sprach Herkules zu sich. «Die Höhle hat zwei Ausgänge und wenn ich zu einer eintrete, verlässt der Löwe sie durch den anderen. Was soll ich tun? Waffen helfen mir nicht. Wie töte ich den Löwen und rette das Volk vor seinen Zähnen? Was soll ich tun?» Und als er sich umsah, was er tun könnte, und auf das Brüllen des Löwen lauschte, sah er einen Holzstoss und eine Menge Äste und Bündel kleiner Zweige in der Nähe liegen. Er zerrte ihn zu sich mit aller Macht, legte die Äste und kleinen Zweige oben auf die Öffnung und versperrte so den Weg ins Tageslicht sowohl nach drinnen wie nach draussen, und sperrte so sich mit dem Löwen in die Höhle. Dann wandte er sich dem Löwen zu.

Rasch packte er den Löwen mit seinen beiden Händen, hielt ihn fest und würgte ihn. Nahe kam ihm sein Atem und versengte sein Gesicht. Er aber hielt immer noch die Kehle fest in seinem Würgegriff. Schwächer und schwächer wurde das Gebrüll des Hasses und der Furcht, schwächer und schwächer wurde der Feind der Menschen; tiefer und tiefer sank der Löwe zu Boden, doch Herkules hielt stand. So tötete er den Löwen mit seinen blossen Händen, ohne Waffen, nur durch die eigene grosse Stärke.

Er tötete den Löwen, zog ihm das Fell ab und zeigte es dem Volk vor dem Eingang

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.