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Die unvollendete Autobiographie, Seite 80 ff. (engl.)
Selbstmord. Ich beobachtete ihn eine Zeitlang, und als mir seine ständigen Drohungen zum Hals heraus wuchsen, holte ich schliesslich ein grosses Küchenmesser und bat ihn, er solle doch endlich aufhören, davon zu reden und handeln. Als er das Messer sah, bekam er Angst, und dann überreichte ich ihm eine Fahrkarte nach England. Einige dieser Leute unterlagen dem Klima, der Einsamkeit und den allgemeinen Beschwerden der damaligen Lebensverhältnisse in Indien. Wir wussten damals wenig von Psychologie, und es kam deshalb kaum zu einer Behandlung der mentalen Probleme dieser Leute. Das waren so einige Situationen, in die ich eingreifen musste und denen ich einfach nicht gewachsen war. Dieser ständige Druck unvorhergesehener Ereignisse war am Ende die Ursache meines Zusammenbruchs. Daneben ereignete sich natürlich auch manches Erfreuliche. Es gelang mir, die Leute an die Heime zu fesseln und von den üblen Bezirken fernzuhalten. Ich schrieb das damals meiner geistigen Macht und Redegewandtheit zu. Heute halte ich die Begründung für wahrscheinlich, dass ich jung und vergnügt war und keine Konkurrenz hatte. Es war eben sonst niemand da, mit dem die Leute hätten reden können, abgesehen von den Damen in den Soldatenheimen. Auch hatte ich wohl die Gabe, die Leute fühlen zu lassen, dass ich sie gern mochte und das war auch der Fall.

Während meines Aufenthalts in Indien kehrte ich dreimal nach England zurück, weil man die lange Seereise von drei Wochen für meine Gesundheit als heilsam erachtete. Ich werde nie seekrank und fühle mich auf See immer recht heimisch. Auf einer dieser Reisen verbrachte ich drei Wochen mit der Überfahrt, blieb eine Woche in Irland, eine in Schottland und eine in England, worauf ich erneut an Bord ging, um nach Indien zurückzukehren. Ich habe insgesamt viele Tage und Monate auf See verbracht. Wie oft ich über den Atlantik gefahren bin, weiss ich heute gar nicht mehr.

Während all dieser Zeit predigte ich ständig und mit Nachdruck die altväterliche Religion. Ich blieb erschreckend orthodox, oder - wie man heute lieber sagt - gedankenlos bibelgläubig, denn kein wortgläubiger «Fundamentalist» gebraucht sein Denkvermögen. Ich hatte mancherlei Diskussionen mit freidenkenden Soldaten und Offizieren, blieb aber mit dogmatischer Hartnäckigkeit bei der kirchlichen Lehre, dass niemand erlöst werden und in den Himmel kommen könne, der nicht glaubte, dass Jesus um seiner Sünden willen gestorben war, um einen zornigen Gott zu besänftigen, und der sich nicht bekehren liess, womit gemeint war, dass er seine Sünden bekannte und alles aufgab, was er gerne tat. Er durfte nicht mehr trinken, Karten spielen, fluchen oder ins Theater gehen, und natürlich durfte er sich auch nicht mit Frauen einlassen. Wenn er seine Lebensweise nicht entsprechend änderte, dann würde er bei seinem Tod unvermeidlich in die Hölle kommen und dort, für ewig in einem See von Feuer und Schwefel brennen. Ganz allmählich schlichen sich aber leise Zweifel in mein Denken ein, und drei Vorkommnisse in meinem Leben zwangen mich in steigendem Mass zu weiterem Nachdenken. Die darin enthaltenen Lehren liessen mir keine Ruhe, und sie waren in der Hauptsache der Anlass dafür, dass ich schliesslich meine Einstellung zu Gott und zum Problem des ewigen Seelenheils änderte. Ich möchte diese Begebenheiten erzählen, und der Leser kann daran den Werdegang meiner inneren Beunruhigung mitverfolgen.

Als ich so etwa dreizehn Jahre alt war, hatte meine Tante in Schottland eine Köchin namens Jessie Duncan. Wir waren seit meiner frühen Kinderzeit eng befreundet, und ich war als kleines Mädchen oft zu ihr in die Küche entwischt, um mir ein Stückchen Kuchen zu erbetteln, wenn ich wusste, dass es welchen gab. Tagsüber war sie mir gegenüber bloss eine höher gestellte Bediente, die aufstand, wenn ich in die Küche trat, die zu mir nur dann sprach, wenn sie angeredet wurde und die sich überhaupt zu mir genauso korrekt benahm, wie alle anderen. Abends jedoch, wenn ihr Tagewerk beendet war, und ich im Bett lag, pflegte sie in mein Zimmer zu kommen und an meinem Bett zu sitzen, und dann unterhielten wir uns lange miteinander. Sie war eine sehr gute Christin. Sie liebte mich und verfolgte meinen Werdegang mit grossem Interesse. Wir waren eng befreundet, und sie verfuhr auch manchmal streng mit mir, wenn sie es für nötig hielt. Wenn sie an meinem Benehmen etwas auszusetzen hatte, dann machte sie keinen Hehl daraus. Wenn ihr in der Küche berichtet wurde, dass ich mich vorn im Hause ungezogen benommen hatte, dann bekam ich es von ihr zu hören. Wenn sie anderseits mit mir im allgemeinen zufrieden war, dann liess sie mich auch das wissen. Ich glaube nicht, dass viele Leute hier in Amerika diese Art von Freundschaft und menschlichen Beziehungen kennen und würdigen, die es drüben zwischen den sogenannten oberen Klassen und ihren alten Bedienten gab. Es handelt sich dabei beiderseits um wirkliche Freundschaft und tiefe Zuneigung.

Eines Abends kam Jessie zu mir herauf, um mit mir zu sprechen. Ich hatte am Nachmittag in der kleinen Gemeindehalle des Dorfes eine religiöse Versammlung abgehalten und glaubte, ich hätte meine Sache besonders gut gemacht. Ich war jedenfalls mit mir sehr zufrieden. Jessie war mit den übrigen Bedienten dort gewesen und sie hatten, wie ich herausfand, mir ziemlich kritisch und ohne Vergnügen zugehört. Wir sprachen über die Versammlung, als sie sich plötzlich zu mir herüberbeugte, mich bei den Schultern packte und mich sanft schüttelte, um folgenden Worten besonderen Nachdruck zu geben: «Werden Sie jemals lernen, Miss Alice, dass es zwölf Pforten zur Heiligen Stadt gibt, und dass ein jeder in der Welt durch die eine oder andere dort eingehen wird? Auf dem Marktplatz werden sie sich alle treffen, aber nicht jeder wird durch ihre Pforte hereinkommen». Ich konnte mir damals nicht vorstellen, was sie damit meinte, und sie war klug genug, nichts weiter zu sagen. Ihre Worte vergass ich nie. Sie hatte mir eine meiner ersten Lehren erteilt, über die Weite der Vision und das ungeheure Ausmass von Gottes Liebe und Fürsorge für sein Volk. Sie hatte damals keine Ahnung, dass ihre Worte später in meinen öffentlichen Vorlesungen an Tausende von Leuten weitergegeben würden.

Die nächste Phase meiner Lektion wurde mir in Indien zuteil. Ich war nach Umballa gegangen, um dort ein Soldatenheim zu eröffnen und hatte meinen alten, persönlichen Hausdiener mitgenommen, einen Eingeborenen namens Bugaloo. Ich glaube, dass er mich wirklich liebte. Er war ein sehr alter Gentleman mit langem, weissem Bart und er erlaubte niemandem etwas für mich zu tun, wenn er irgendwo in der Nähe war; er bemühte sich um mich mit der allergrössten Sorgfalt, begleitete mich überall auf meinen Reisen, hielt mein Zimmer in Ordnung und brachte mir jeden Morgen das Frühstück.

Eines Tages stand ich auf der Veranda unseres Quartiers in Mumballa und schaute auf die an unserem Lager vorbeiführende Strasse mit ihrem endlosen Gewimmel von Indern, - Hindus, Mohammedaner, Afghanen, Sikhs, Gurkas, Rajputs und die Babus (Babu bedeutet etwa «Herr», ein (oft spöttisch) auf gebildete Hindus angewandter Titel, die eine englische Erziehung genossen hatten), Kehrer, Männer, Frauen und Kinder, die da ununterbrochen des Weges kamen. Sie gingen leise dahin, kamen von irgendwo her und gingen irgendwo hin, in Gedanken versunken; ihr Name ist Legion. Plötzlich trat der alte Bugaloo auf mich zu, legte seine Hand auf meinen Arm (was sonst kein indischer Bedienter tut) und rüttelte mich leise, um meine Aufmerksamkeit zu erwecken. Dann sagte er in seinem merkwürdigen Englisch: «Missy Baba, hör. Millionen Menschen hier. Millionen immer schon, lange bevor ihr Engländer herkommen. Selbe Gott liebt mich, liebt sie». Seitdem habe ich mich oft gewundert, wer er war und mich gefragt, ob ihn vielleicht mein Meister K. H. dazu benutzt hatte, um die Schranken der Förmlichkeit in mir niederzureissen. Dieser alte Träger sah aus und benahm sich wie ein Heiliger, und wahrscheinlich war er ein Jünger. Wiederum stand ich vor dem gleichen Problem, das Jessie Duncan mir vor Augen geführt hatte - das Problem der Liebe Gottes. Was hatte Gott seit Urzeiten mit den Millionen von Menschen in der ganzen Welt angefangen, die vor Christus gelebt hatten? Waren sie alle unerlöst gestorben und zur Hölle gegangen? Ich kannte die abgedroschene Behauptung, dass Christus während der drei Tage, als sein Körper im Grab lag, zu den «Geistern im Gefängnis», d.h. in der Hölle gepredigt habe, aber das schien mir nicht gerecht zu sein. Warum sollte man ihnen nur eine kleine, dreitägige Gelegenheit geben, nachdem sie Tausende von Jahren in der Hölle zugebracht hatten, weil sie zufällig vor Christus gelebt hatten? Daraus ist ersichtlich, wie allmählich diese inneren Fragen an mein geistiges Ohr dröhnten.

Der nächste Vorfall ereignete sich in Quetta. Ich war zu dem Entschluss gekommen, dass es sowohl für meinen Seelenfrieden als auch für das Wohl der Soldaten absolut notwendig sei, einmal ganz speziell über die Hölle zu sprechen. In all meinen Jahren als Evangelistin hatte ich das nie getan. Ich war der Frage aus dem Weg gegangen, nur gelegentlich hatte ich sie gestreift. Nie war ich mit der bestimmten Behauptung aufgetreten, dass es eine Hölle gebe und dass ich daran glaubte. Ich war durchaus nicht sicher, wie es mit der Hölle stand. Das einzige, was ich sicher wusste, war die Tatsache, dass ich selbst erlöst war und deshalb nicht dorthin geschickt werden würde. Wenn es aber eine Hölle gab, dann sollte man auch darüber sprechen, besonders da Gott davon so ausgiebigen Gebrauch macht, da er ja Tausende von unerwünschten Leuten dort absetzt. Ich beschloss also, darüber nachzulesen und setzte es mir in den Kopf, dieser Frage wirklich auf den Grund zu gehen. Ich beschäftigte mich damit einen ganzen Monat lang und las insbesondere die Werke eines widerwärtigen Theologen namens Jonathan Edwards. Man kann sich kaum vorstellen, wie abscheulich einige seiner Predigten waren. Sie waren wirklich scheusslich und zeugten von einer sadistischen Natur. An einer Stelle spricht er beispielsweise von kleinen Kindern, die ungetauft sterben, und er nennt sie «kleine Nattern», die im Höllenfeuer rösten, bis sie knusprig sind. Das schien mir allerdings wirklich ungerecht Sie hatten nicht darum gebeten, geboren zu werden; sie waren nicht alt genug, um irgend etwas von Jesus zu wissen, warum sollten sie also in aller Ewigkeit geröstet werden? Ich war ganz und gar von Gedanken über die Hölle erfüllt und triumphierte geradezu mit meinen Kenntnissen, wobei ich allerdings vergass, dass noch niemand je von dort zurückgekehrt war, um zu sagen, ob es eine Hölle gebe oder nicht. Und in dieser Verfassung trat ich an jenem Nachmittag auf das Podium, fest entschlossen, fünfhundert Männer vor lauter Schrecken in die Vorhöfe des Himmels zu jagen.

Es war ein riesiger Raum, mit langen, französischen Fenstertüren zum Rosengarten, und die Rosen standen damals in voller Blüte. Ich sprudelte geradezu über, deklamierte mit lauter Stimme und betonte in meiner Ansprache, wie sehr meine Zuhörer der Erlösung bedurften. Ich liess mich ganz von meinem Thema fortreissen; ich vergass meine Umgebung und dachte bloss an die Hölle. Nach einer halben Stunde entdeckte ich plötzlich, dass ich keine Zuhörer mehr hatte. Einer nach dem anderen waren sie durch die Fenstertüren hinausgeschlichen; einer nach dem anderen hatten sie mir solange zugehört, bis sie es nicht mehr aushalten konnten, und dann hatten sie sich unter den Rosen wieder versammelt, um über die kleine Törin zu lachen. Ich blieb mit einer kleinen Schar religiös gesinnter Soldaten übrig (die von ihren Kameraden höhnisch «Bibeltrommler» genannt wurden). Sie gehörten zu einer besonderen Gruppe, die an meinen Gebetsversammlungen teilnahm, und sie warteten schweigend, beharrlich und höflich, bis ich fertig war. Als alles vorbei war, und ich einen ziemlich schwachen Abschluss gefunden hatte, kam ein Sergeant von draussen auf mich zu und sagte mit mitleidsvollem Blick: «Na schön, Fräulein, solange sie die Wahrheit sagen, bleiben wir gern sitzen und hören uns alles an, das wissen sie ja auch; aber wenn sie anfangen, uns Lügen zu erzählen, dann stehen die meisten von uns einfach auf und gehen. Und das haben wir ja auch getan». Das war mir eine drastische und harte Lehre, die ich damals noch nicht verstand. Ich glaubte, dass die Bibel die Tatsache der Hölle lehre, und alle meine Werte gerieten ins Wanken. Wenn die Lehre von der Hölle nicht stimmte, was stimmte dann ausserdem nicht?

Diese drei Vorfälle verursachten in mir heftige Zweifel und trugen am Ende dazu bei, dass ich mit den Nerven zusammenbrach. Hatte ich mich schon die ganze Zeit geirrt? Gab es doch noch einiges, was ich zu lernen hatte? Gab es andere Gesichtspunkte, die möglicherweise richtiger waren? Ich wusste, dass es viele nette Menschen gab, die nicht so dachten wie ich, und bislang hatte ich nur Mitleid mit ihnen empfunden. War Gott so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, und (oh schrecklicher Gedanke) wenn Gott so war, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, und wenn ich wirklich Gott und sein Vorhaben verstand, konnte er dann überhaupt Gott sein? Denn wenn ich ihn verstehen konnte, dann müsste er doch genauso begrenzt sein wie ich? Gab es eine Hölle und, wenn ja, warum in aller Welt sandte Gott auch nur einen Menschen dorthin, wenn es ein so unangenehmer Ort, und wenn er ein Gott der Liebe war? Ich wusste, dass ich das nicht tun könnte. Ich wusste, dass ich den Leuten sagen würde: «Schön, wenn ihr nicht an mich glauben könnt, dann tut es mir leid, denn ich verdiene es wirklich, dass man an mich glaubt, aber ich kann und werde euch deswegen allein nicht bestrafen. Vielleicht könnt ihr nichts dafür, vielleicht habt ihr nicht einmal von mir gehört, oder vielleicht hat man euch irreführende Dinge über mich erzählt». Warum sollte ich freundlicher sein als Gott? Wusste ich von Liebe mehr als Gott und konnte Gott dann noch Gott sein, da ich ja in gewisser Beziehung grösser wäre als er? Wusste ich überhaupt, was ich tat? Wie konnte ich weiterhin andere unterrichten? Und so weiter und so weiter. Mein Standpunkt und meine Haltung änderten sich allmählich. Es hatte eine kleine Gärung eingesetzt, deren Endresultat grundlegend und deren Verlauf schmerzhaft war. Ich war ernstlich besorgt und konnte nachts nicht mehr schlafen. Ich konnte nicht mehr klar denken

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.