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Die unvollendete Autobiographie, Seite 73 ff. (engl.) |
besonderen Spass daraus, den Laden auf den Kopf zu stellen. Etwa zwanzig von
ihnen kamen zusammen aus der Kaserne, gingen in die Kantine, bestellten sich
Kakao und Spiegeleier und verbrachten dann die übrige Zeit damit, die Kakaotöpfe
mitsamt den Eiern gegen die Wände zu schleudern. Was dabei herauskam, kann man
sich vorstellen. Es herrschte ein wüstes Durcheinander, aber das Benehmen der
Soldaten war noch schlimmer. Ich wurde also hingeschickt, um zu sehen, was sich
dagegen tun liess. Ich war einfach entsetzt und wusste mir keinen Rat. Die
ersten paar Abende ging ich zwischen der Kantine und den Leseräumen hin und her,
aber nur um festzustellen, dass meine Gegenwart sie nur noch schlimmer machte.
Es wurde das Gerücht verbreitet, dass ich ein ausgekochtes, junges Ding sei und
sie wahrscheinlich bei den Behörden anzeigen würde. Sie wollten mir's also
zeigen.
Nachdem ich wenigstens festgestellt hatte, wer daran beteiligt war und wer die Rädelsführer waren, sandte ich eines Morgens eine Ordonnanz in die Kaserne, um diejenigen, die gerade dienstfrei waren, zu einer bestimmten Stunde ins Soldatenheim einzuladen. Zufällig hatte keiner von ihnen Dienst und reine Neugierde brachte sie alle zur Stelle. Als sie ankamen, lud ich sie in Gharris, packte alle Vorräte zu einem Picknick dazu und fuhr mit ihnen an einen Platz, der damals Woodcock Spinney hiess. Es war ein herrlicher, heisser, klarer Tag, und die Tatsache, dass dieser Platz damals von giftigen Schlangen verseucht war, machte uns scheinbar nichts aus. Dort kochten wir Tee und erzählten alberne Geschichten; wir gaben einander Rätsel auf und sprachen nicht ein einziges Mal über Religion; ich erwähnte auch nichts von ihren Missetaten, und als es dann Abend wurde, gingen wir nach Hause. Ich hatte kein Wort des Tadels, der Kritik oder der Erörterung fallen gelassen und auch keine Bitte ausgesprochen. Die Leute waren darüber offensichtlich verwundert. Auch später in der Kantine sagte ich nichts, sie gingen - immer noch erstaunt - in die Kaserne zurück. Am nächsten Nachmittag kam einer unserer Kantinenleiter und bat mich, einen Augenblick hinüberzukommen. Da fand ich all diese Leute damit beschäftigt, die Wände zu säubern und frisch zu übermalen, die Fussböden zu waschen und den Raum schöner zu machen, als er je gewesen war. Ich fragte mich: war ich zu eingeschüchtert, um die Sache zur Sprache zu bringen oder war ich einfach gescheit? So jedenfalls spielte sich die Episode ab, ohne dass ich einen bestimmten Plan entworfen hatte. Ich lernte viel daraus. Ich bewies mir selbst, zu meiner grossen Überraschung, dass Verstehen und Liebe beim einzelnen Erfolg haben, wenn Tadel und Anschuldigen nichts ausrichten. Ich hatte mit dieser Bande nie mehr Schwierigkeiten. Einer von ihnen ist heute noch mein Freund, obwohl ich alle anderen aus den Augen verloren habe während der vierzig Jahre, die seitdem vergangen sind. Dieser Mann besuchte mich, als ich im Jahr 1934 in London war, und wir sprachen von jenen fernen Tagen. Es ging ihm gut. Ich machte jedoch eine überraschende Entdeckung. Diese Leute hatten sich nicht durch mein beredtes Predigen oder durch die Betonung theologischer Vorstellungen vom erlösenden Blut Jesu zu etwas Besserem bewegen lassen, sondern einfach durch Liebe und Verstehen. Ich hatte nicht geglaubt, dass das möglich wäre. Ich hatte noch zu lernen, dass Liebe der Leitgedanke der Lehre Christi ist, und dass es seine Liebe und sein Leben ist, was erlöst, und nicht irgendwelche wilden theologischen Verkündungen über die Furcht vor der Hölle. Während meiner Indienzeit gab es noch manche kleinen Zwischenfälle, von denen ich erzählen könnte, aber sie sind wahrscheinlich von grösserem Interesse für mich als für andere. Ich ging von einem Heim zum anderen, überprüfte die Bücher, unterhielt mich mit den Heimleitern, hielt endlose religiöse Versammlungen ab, sprach mit den Soldaten über ihr Seelenheil oder ihre Familien, besuchte sie in den Militärlazaretten und beschäftigte mich mit den vielen Problemen, die sich ganz natürlich ergeben, wenn Hunderte von Männern, fern von der Heimat, in einem heissen Klima und einer ihnen fremden Zivilisation leben müssen. Ich wurde bei vielen Regimentern gut bekannt. Ich habe sie mir einmal zusammengezählt und stellte fest, dass ich in Irland und Indien bei vierzig Regimentern gearbeitet hatte. Manche von ihnen hatten einen besonderen Namen für mich. Ein bekanntes Kavallerie-Regiment nannte mich «Ganny» (Oma). Ein Garderegiment redete mich aus irgendeinem Grund stets mit «China» an. Ein sehr bekanntes Infanterie-Regiment sprach oder schrieb von mir als die B. O. L. und meinte damit «Benelovent Old Lady» (wohlwollende alte Dame). Die meisten Jungen nannten mich bloss «Mutter», wahrscheinlich, weil ich so jung war. Mein Briefwechsel wurde immer umfangreicher und ich wurde im Lauf der Zeit mit der Gedankenwelt eines Soldaten sehr vertraut. Nie fand ich, dass sie so sprechen, wie Rudyard Kipling es beschreibt. Der durchschnittliche Tommy Atkins ist über die Art, wie er von ihm dargestellt wird, geradezu beleidigt. Ich spielte Tausende von Dame-Partien und erlangte darin allmählich grosse Gewandtheit, nicht weil ich nach wissenschaftlichen Grundsätzen spielte, sondern weil ich unheimlich gut erraten konnte, was mein Gegner tun würde. Den Geruch von Kakao und Spiegeleiern hatte ich stets in der Nase. Im Lesesaal pflegte ich die populären Schlager auf dem Klavier nach Gehör zu begleiten, bis mir davon todübel wurde, und ich einfach nicht mehr hören konnte wie die Leute dazu gröhlten: «Wie ein Efeu, häng, ich an dir» oder «Alle kleinen Stiefmütterchen, schau'n mich an und lächeln», was damals in aller Munde war. Für die Worte des Textes hatten die Leute allerdings ihre eigenen Abwandlungen, die ich nach Möglichkeit überhörte, um nicht dagegen einschreiten zu müssen. Ich spielte stundenlang Choräle auf dem Harmonium und kannte sie fast auswendig. Ich hatte damals eine recht gute und sehr geschulte Mezzo-Sopranstimme von grossem Umfang, verlor sie aber beim Singen in den stark verräucherten Räumen. Ich glaube, ich verkaufte mehr Zigaretten als ein Tabakladen. Es machte mir viel Freude, bei den Versammlungen die Choräle vorzusingen. Soldaten kennen keine Ehrfurcht, und ich merkte bald, dass sie «Wie ein Vogel flieg, ich zum Brunnen» meinten, wenn sie nach dem «Hühner-Choral» verlangten. In ähnlicher Weise erfanden sie ihre eigenen Bezeichnungen für manches andere Lied, und viele davon waren wenig andächtig, um es gelinde auszudrücken. Wir benutzten das Gesangbuch von Moody und Sankey, das sich durch wirklich schöne und einschmeichelnde Melodien auszeichnete, wenn es auch vom poetischen und literarischen Standpunkt aus unter aller Beschreibung war. Ich weiss noch, wie ich eines Abends in Chakrata einmal einen Choral angesagt und mir dabei einen nicht gerade andachtsvollen Scherz über einen seiner Knüppelverse erlaubt hatte. Ich sah plötzlich auf und entdeckte in der hintersten Reihe einen General mit seinem Adjutanten und seinem Stab, der zur Besichtigung des Soldatenheims gekommen war und mal sehen wollte, was wir eigentlich machten. Mit einigem Erstaunen fanden diese Herren eine junge Frauensperson in weissem Kleid mit blauer Schärpe, die anscheinend keine besondere Ehrfurcht für Religion zeigte und jedenfalls nicht der Vorstellung entsprach, die sie von einer Evangelistin hatten. Ich möchte jedoch hier bemerken, dass die Offiziere der verschiedenen Regimenter immer äusserst nett zu mir waren. Ich war in meinem damaligen Leben (das heute so weit zurückliegt) wohl nie so masslos eingebildet, als wenn ich beim Verlassen der Kirche nach der Kirchenparade, von den Offizieren und Mannschaften gegrüsst wurde. Die freudige Erregung ist mir noch heute in Erinnerung. Ich verbrachte meine charakterbildenden Jahre fast ausschliesslich unter Männern. Oft sprach ich wochenlang mit keiner Frau, ausser der Mitarbeiterin, die mir zu meinem Schutz beigegeben war. Ich muss offen gestehen, dass ich bis zum heutigen Tag kein Verständnis für weibliches Denken habe. Das ist natürlich eine grosse Verallgemeinerung, die deshalb nicht immer ganz zutrifft. Ich habe auch Freundinnen und bin ihnen sehr zugetan, aber im grossen ganzen ziehe ich maskulines Denken vor. Mit einem Mann kann man gelegentlich in ernste Schwierigkeiten geraten, während eine Frau einem ständig alberne kleine Schwierigkeiten in den Weg legen kann, und damit geb ich mich einfach nicht ab. Ich bin wohl keine Frauenrechtlerin, aber ich weiss, dass einer Frau, die wirklich etwas in sich hat und intelligent ist, die höchsten Stellungen offen stehen. Morgens widmete ich mich gewöhnlich meinen Bibelstudien, denn ich musste durchschnittlich fünfzehn Versammlungen pro Woche abhalten sowie die laufenden Korrespondenzen erledigen und die Verhandlungen mit den Geschäftsführern leiten; und ausserdem raufte ich mir die Haare aus über die Buchführung, denn ich lernte es einfach nie, mit Zahlen umzugehen. Wir hatten jeden Morgen fünf- oder sechshundert Mann in der Kantine abzufüttern, und das bedeutete viel Einkaufen und Verkaufen. Meine Nachmittage verbrachte ich gewöhnlich in einem Lazarett, meist in den Sälen ohne weibliche Schwestern, denn dort wurde ich am meisten gebraucht. Ich ging dann in diesen grossen Militärlazaretten von einer Krankenbaracke zur anderen, beladen mit Schriften, Drucksachen und Büchern und natürlich auch mit den unvermeidlichen Traktätchen. Von letzteren sind mir nur zwei in Erinnerung geblieben. Das eine hiess: «Warum die Biene die Mutter stach» (ich kam niemals darauf, warum) und das andere: «Einfache Worte für einfache oder unansehnliche (engl. «plain») Leute» und ich fragte mich immer, warum die gut aussehenden davon ausgenommen waren. Ich wurde in den Lazaretten ziemlich bekannt, und Militärpfarrer aller Richtungen liessen mich ständig holen, wenn einer der Jungens im Sterben lag; und wenn ich auch sonst nichts helfen konnte, so sass ich wenigstens am Bett und hielt seine Hand. Während ich so bei diesen Leuten sass und zusah, wie sie ins Jenseits hinübergingen, da lernte ich eine wichtige Lektion: die Natur oder Gott sorgt zu dieser Zeit für diese Leute, und gewöhnlich sterben sie ganz unerschrocken und sind oft froh, dass sie gehen können. Oder sie befinden sich in einem Dämmerzustand und sind physisch ohne Bewusstsein. Nur zwei von den Männern, an deren Sterbebett ich sass, benahmen sich anders. Einer, in Lucknow, starb, während er Gott und seine Mutter verfluchte und das Leben verwünschte, und der andere war ein schrecklicher Fall von Tollwut. Der Tod ist nicht so schrecklich, wenn man ihm direkt ins Gesicht sieht. Oft erschien er mir wie ein liebevoller Freund, und ich hatte nie das geringste Gefühl, dass etwas Wirkliches und Wesentliches zu Ende ginge. Ich wusste nichts von psychischer Forschung oder vom Gesetz der Wiedergeburt, und dennoch war ich selbst in jenen orthodoxen Tagen davon überzeugt, dass es sich um einen Übergang zu einer anderen Betätigung handelte. In meinem Unterbewusstsein glaubte ich wirklich nie an eine Hölle, und viele von den Leuten, die im christlichen Sinn orthodox sind, hätten dorthin gehört. Ich beabsichtige nicht, eine Abhandlung über den Tod zu schreiben, aber ich möchte hier eine Definition anführen, die mir immer angemessen erschien. Der Tod «ist eine Berührung durch die Seele, die für den Körper zu stark ist»; er ist ein Ruf des Göttlichen, der keine abschlägige Antwort duldet; er ist die Stimme der inneren Geistigen Identität, die da sagt: «Kehre vorübergehend zu deinem Zentrum oder deiner Quelle zurück und denke über die gemachten Erfahrungen und erfassten Lehren nach, bis es Zeit wird, zu einem neuen Zyklus des Lernens, des Fortschritts und der Bereicherung zur Erde zurückzukehren.» So ging ich ganz in meiner Arbeit und in deren Rhythmus auf, und ich fühlte mich äusserst wohl dabei, obwohl es mir gesundheitlich nicht gut ging und ich unter recht heftiger Migräne litt. Trotz dieser Kopfschmerzen, die mich manchmal tagelang plagten, raffte ich mich immer wieder auf und tat, was zu tun war. Wie bereits erwähnt, hatte ich mich mit Problemen abzugeben, denen ich nicht gewachsen war, und einige davon waren recht tragischer Natur. Ich hatte so wenig Lebenserfahrung, dass ich mir nie sicher war, ob eine getroffene Entscheidung die beste und richtige war. Ich musste zu Situationen Stellung nehmen, mit denen ich auch heute nur ungern zu tun haben möchte. Einmal suchte ein Mörder, der gerade seinen Kumpan erschossen hatte, bei mir Zuflucht, und ich musste ihn der Justiz übergeben, als die Polizei kam und seine Auslieferung von mir verlangte. Ein anderes Mal machte sich ein Geschäftsführer eines unserer Heime mit dem ganzen Kassenbestand aus dem Staub, und ich verbrachte die Nacht damit, ihm längs der Bahnlinie nachzujagen. Dabei ist zu bedenken, dass sich so etwas damals einfach nicht schickte, und mein Benehmen war vom Standpunkt der Frau Grundy aus nahezu unverzeihlich. Eines Morgens wachte ich in Luchnow unter dem starken Eindruck des Gedankens auf, ich müsste sofort nach Meerut reisen. Ich hatte eine freie Rundfahrkarte erster Klasse auf der Great Indian Peninsula Railroad (G. I. P.), und damit konnte ich nach Belieben in ganz Nordindien frei herumfahren. Meine Mitarbeiter versuchten, mich von der Reise abzuhalten, aber ich hatte das Gefühl, dass man mich brauchte. Als ich in Meerut ankam, stellte sich heraus, dass einer der Geschäftsführer einen Sonnenstich erlitten hatte, mit dem Kopf auf einen Balken aufgeschlagen war und den Verstand verloren hatte. Ich fand seine Frau und sein Kind in völliger Verzweiflung. Der Mann hatte einen krankhaften Trieb zum Selbstmord entwickelt und der Doktor warnte mich, dass er auch für andere gefährlich werden könnte. Seine junge Frau und ich betreuten ihn zehn Tage lang, bis ich seine Überfahrt nach England arrangieren konnte, wo er sich schliesslich wieder erholte. Ein anderer Geschäftsführer wurde schwermütig und drohte andauernd mit |
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Last updated Saturday, February 14, 1998 © 1998 Netnews Association. All rights reserved. |