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Die unvollendete Autobiographie, Seite 67 ff. (engl.) |
und ich wusste, dass er Unmengen von Whisky und Soda trank. Die Reise dauerte
damals drei Wochen, und während der ganzen Zeit beobachtete ich ihn mit
Geringschätzung. Von meinem Gesichtspunkt aus war er der Teufel.
Er hatte ein- oder zweimal zu mir gesprochen, aber ich hatte ihm sehr klar zu verstehen gegeben, dass ich mit ihm nichts zu tun haben wollte. Als ich an jenem Tag in dem grossen Bahnhof von Bombay auf meinen Zug wartete, starr vor Angst und mit dem heimlichen Wunsch, «wär, ich doch daheim geblieben», da kam dieser Mann auf mich zu und sagte: «Gnädiges Fräulein, sie können mich nicht leiden und sie haben mir das sehr deutlich zu verstehen gegeben, aber ich habe eine Tochter ungefähr in ihrem Alter, und ich würde mir verdammt übel vorkommen, wenn ich sie allein in Indien herumreisen liesse. Ob sie jetzt wollen oder nicht, sie werden mir ihr Abteil zeigen. Ich will mir ihre Mitreisenden genau ansehen, und sie müssen sich wohl oder übel in meinen Beschluss schicken. Ich werde sie auch auf den Haltestellen abholen, wo wir zum Essen aussteigen». Was über mich kam, weiss ich nicht, aber ich sah ihm gerade ins Gesicht und sagte: «Ich habe Angst. Bitte sorgen sie für mich». Das tat er im vollstem Mass, und als ich ihn das letzte Mal zu Gesicht bekam, da stand er in Schlafanzug und Frisiermantel mitten in der Nacht auf einer Umsteigestation und gab dem Schaffner ein Trinkgeld, damit er sich meiner annähme, da er selber nicht mehr mit mir auf der gleichen Strecke weiterfahren konnte. Drei Jahre später war ich nach Rhanikhet im Himalayagebirge gegangen, um dort ein neues Soldatenheim aufzumachen. Da kam eines Tages ein Laufbote aus einem Grenzbezirk mit einem Brief von einem Freund dieses Mannes, worin er mich bat, zu ihm zu kommen, da er nur noch kurze Zeit zu leben habe und geistigen Beistand brauche. Er hatte nach mir verlangt. Meine Mitarbeiterin weigerte sich, mich gehen zu lassen; sie hatte die Verantwortung für mich übernommen und war äusserst schockiert. Ich ging also nicht, und er starb allein. Ich habe mir das nie verziehen - aber was konnte ich machen? Tradition, Sitte und die Frau, die mich bemutterte, arbeiteten gegen mich, aber ich fühlte mich unglücklich und hilflos. Auf der Fahrt von Bombay nach Meerut hatte er mir eines Abends beim Essen direkt ins Gesicht gesagt, ich wäre ganz und gar nicht so selbstsicher und heilig, wie ich aussähe, und er glaube bestimmt, ich würde eines Tages schon noch draufkommen, dass ich ein menschliches Wesen wäre. Er sagte, er stecke zur Zeit bis über die Ohren in Schwierigkeiten und fragte, ob ich ihm nicht helfen wolle. Er kam gerade aus England zurück, wo er seine Frau in eine Irrenanstalt hatte bringen müssen; sein einziger Sohn war tödlich verunglückt, und seine einzige Tochter war mit einem verheirateten Mann davongelaufen. So stand er allein in der Welt. Er wollte nichts von mir als ein freundliches Wort. Das gab ich ihm, denn ich mochte ihn mit der Zeit recht gut leiden. Als er im Sterben lag, sandte er nach mir. Ich ging nicht hin, und das tut mir leid. Von da an gestaltete sich mein Leben sehr fiebrig. Ich sollte (in Abwesenheit von Miss Schofield) die Aufsicht über eine ganze Reihe von Soldatenheimen führen, Quetta - Meerut - Lucknow - Chakrata, und zwei weitere Heime, die ich mit eröffnen half - Umballa und Rhanikhet - in den Himalayas, nicht sehr weit von Almora. Chakrata und Rhanikhet lagen im Vorgebirge, ungefähr zweitausend Meter hoch, und waren natürlich Sommeraufenthalte. Vom Mai bis September wurden wir «Bergpapageien». Es gab noch ein anderes Heim in Rawal Pindi, aber damit hatte ich nichts zu tun, ausser dass ich für einen Monat dort hinging, um die Leiterin, Miss Ashe, zu vertreten. In jedem dieser Heime gab es zwei Damen und zwei Geschäftsführer, die für den Betrieb der Kaffeestube und die allgemeine Instandhaltung des Heimes verantwortlich waren. Gewöhnlich waren es ausgediente Soldaten, die ich wegen ihrer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft in bester Erinnerung habe. Ich war sehr jung und unerfahren; ich kannte in ganz Asien keinen einzigen Menschen; ich war schutzbedürftiger, als ich dachte; ich neigte zu den dümmsten Streichen, bloss weil ich nichts wirklich Böses kannte und nicht die blasseste Ahnung davon hatte, was jungen Mädchen passieren könnte. Einmal litt ich zum Beispiel unter furchtbaren Zahnschmerzen und es wurde damit so schlimm, dass ich es einfach nicht mehr aushalten konnte. Es gab damals keinen ansässigen Zahnarzt in dem Bezirk, in dem ich arbeitete, aber gelegentlich kam ein umherziehender Dentist (meistens ein Amerikaner) hierher, der sich dann in einer Art von Postbaracke, dem sogenannten «Dak», einnistete und die nötigen Arbeiten machte. Ich hörte, dass zufällig einer im Städtchen war und ging einfach zu ihm, ganz allein und ohne meiner Mitarbeiterin etwas davon zu sagen. Ich fand einen jungen Amerikaner und seinen Assistenten. Der Zahn war in schlimmer Verfassung und musste heraus, und so bat ich ihn, mir Gas zu geben und den Zahn zu ziehen. Er sah mich ziemlich komisch an, tat aber, wie ich verlangte. Als ich danach wieder zur Besinnung kam, las er mir tüchtig die Leviten; ich hätte doch nicht wissen können, dass er ein anständiger Mann sei, und während ich vom Gas betäubt war, wäre ich doch ganz in seiner Gewalt gewesen, und nach seiner Erfahrung wären doch einzelne Männer, die in Indien herumzogen, nicht besser, als man erwarten dürfte. Ehe ich ging, nahm er mir das Versprechen ab, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Das habe ich dann auch - im allgemeinen - gehalten und ich gedenke seiner mit Dankbarkeit, auch wenn ich seinen Namen vergessen habe. Damals kannte ich überhaupt keine Furcht und wusste nicht, was es heisst, Angst zu haben. Zum Teil war das natürlich Gedankenlosigkeit, zum Teil Unwissenheit und dazu kam die Gewissheit, dass Gott für mich sorgen würde. Scheinbar tat er das auch nach dem Grundsatz, dass Betrunkene, Kinder und Toren unverantwortlich sind und beschützt werden müssen. Der erste Ort, wo ich hinging, war also Meerut, wo ich Miss Schofield kennenlernte und in einige von den Dingen eingeweiht wurde, die ich als ihre zeitweilige Vertreterin wissen musste. Mein grösster Mangel war einfach der, dass ich für die Verantwortung zu jung war. Was sich später ereignete, ging über meine Kräfte. Ich hatte keinerlei Erfahrung und konnte demzufolge noch nicht das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden. Manches Nebensächliche regte mich furchtbar auf, und wirklich ernste Dinge machten mir nichts aus. Wenn ich an diese Jahre zurückdenke, so scheint mir trotzdem, dass ich im grossen und ganzen doch ganz gut abschnitt. Anfangs war ich fast überwältigt von den Wundern des Orients. Alles war so neu, so fremdartig und ganz anders als ich es mir vorgestellt hatte. Farbenpracht, schöne Bauten, Schmutz und Verkommenheit, Palmenbäume und Bambus, entzückende kleine Kinder und Frauen, die zur damaligen Zeit Wasserkrüge auf dem Kopf trugen; Wasserbüffel und merkwürdige Fahrzeuge, wie Gharries und Ekkas (ob die wohl heute noch existieren?), mit Menschen überfüllte Basare und Geschäftsstrassen der Eingeborenen, Silberzeug und wunderschöne Teppiche, Eingeborene mit leisem Schritt, Moslems, Hindus, Sikhs, Rajputs, Gurkhas, eingeborene Soldaten und Polizisten, gelegentlich ein Elefant mit seinem Mahout (Wärter), merkwürdige Gerüche, seltsame Sprachen und ewiger Sonnenschein, abgesehen während der Monsune, - immer und ewig Hitze. Das sind so einige meiner Erinnerungen an jene Zeit. Ich liebte Indien. Ich wollte immer nochmal dorthin zurück, aber ich fürchte, es wird mir in diesem Leben nicht mehr gelingen. Ich habe viele Freunde in Indien und unter Indern, die in anderen Ländern leben. Ich weiss einiges von den Problemen Indiens, von seinem Streben nach Unabhängigkeit, seinen internen Kämpfen und Konflikten, seinen vielen Sprachen und Rassen, seiner Übervölkerung und seinen mannigfaltigen Glaubensrichtungen. Ich kenne Indien nicht allzu genau, weil ich nur einige Jahre dort weilte, aber ich liebe seine Menschen. Hier in den Vereinigten Staaten wissen die Leute nichts von dem Problem und deshalb raten sie gern Grossbritannien, was geschehen sollte. Die wilden Reden feuriger Hindus bedeuten hier mehr als die ruhige Versicherung des britischen Raj, dass Indien den Rang einer Dominion einnehmen oder auch völlige Unabhängigkeit haben kann, sobald Hindus und Moslems ihre Streitigkeiten beilegen. Immer wieder hat man den Versuch gemacht, zu einer Verfassung zu kommen, unter der die Moslems (die mächtige, reiche und kriegerische Minorität von siebzig Millionen) und die Hindus zusammenleben können; eine Verfassung, die nicht nur diese beiden Gruppen, sondern auch die indischen Fürstentümer und die Millionen von Menschen befriedigt, welche die Indische Kongresspartei nicht anerkennen oder nicht auf sie hören. Vor ein paar Jahren fragte ich einen bekannten Hindu, was seiner Ansicht nach passieren würde, wenn die Briten all ihre Truppen und Interessen aus Indien zurückzögen. Ich bat ihn um die Wahrheit und nicht um blosse Propaganda. Er zögerte und sagte: «Aufruhr, Bürgerkrieg, Mord, Plünderung und Abschlachtung von Tausenden von friedliebenden Hindus durch die Moslems». Ich deutete an, dass demnach die langsamere Methode der Erziehung wohl die klügere wäre. Er zuckte mit den Achseln und sagte: «Was machen sie, Alice Bailey, eigentlich in einem britischen Körper? Sie sind ein wiederverkörperter Hindu und haben viele Leben hindurch einen Hindukörper gehabt». «Das glaube ich gern», antwortete ich, und dann sprachen wir über die unleugbare Tatsache, dass Indien und Grossbritannien eng verwandt sind und miteinander viel Karma abzuarbeiten haben und dies früher oder später tun müssen; und dieses Karma ist nicht allein britischen Ursprungs. Es ist eine interessante Tatsache, dass während des letzten Krieges die allgemeine Dienstpflicht nicht auf Indien Anwendung fand, dass sich aber mehrere Millionen freiwillig meldeten, während aus einer Bevölkerung von 550 Millionen in Indien und Burma nur ganz wenige mit den Japanern mitmachten. Indien wird und muss frei sein, aber das muss auf die rechte Weise geschehen. Das wirkliche Problem besteht nicht zwischen den Briten und der Bevölkerung Indiens, sondern zwischen den Moslems, die Indien eroberten, und den Indern. Sobald einmal dieses interne Problem gelöst ist, wird Indien frei sein. Eines Tages werden wir alle frei sein. Rassenhass wird aussterben; nationale Staatsangehörigkeit wird wichtig, aber die Menschheit als Ganzes wird weit wichtiger sein. Grenzen und Gebietseinteilungen werden ihren rechten Platz im menschlichen Denken einnehmen, aber es wird mehr auf guten Willen und nationale Verständigung ankommen. Religiöse Differenzen und sektiererische Abneigungen müssen am Ende verschwinden und dann werden wir «einen Gott und Vater» anerkennen, «der da ist über allen und durch alle und in uns allen». Das sind keine eitlen und visionären Träume. Es sind allmählich in Erscheinung tretende Tatsachen. Sie werden schneller in Erscheinung treten, wenn kommende Generationen durch die richtigen Erziehungsmethoden beeinflusst werden; wenn sich die Kirchen über die Tatsache Christi - und nicht über theologische Auslegungen - klarwerden, und wenn die Geldmittel und die Güter der Erde als Werte angesehen werden, die man teilen muss. Dann werden diese kritischen internationalen Probleme ins richtige Licht rücken, und die Welt der Menschen wird in Frieden und Sicherheit der neuen Kultur und der künftigen Zivilisation entgegen gehen. Vielleicht interessieren diese Prophezeiungen den Leser nicht, aber diese Dinge bewegen mich und alle diejenigen, die ihre Mitmenschen lieben. Ich erinnere mich kaum noch an irgend etwas Wichtiges, was sich während dieser ersten Wochen in Meerut ereignete, aber meine wirkliche Erfahrung begann in Quetta. Meine Arbeit im Soldatenheim in Quetta ist mir als eine der interessantesten Phasen meiner Betätigung im Gedächtnis geblieben. Ich liebe Quetta. Es liegt ungefähr 1500 Meter hoch, ist im Sommer sehr heiss und trocken und im Winter sehr kalt. Trotzdem mussten wir damals selbst bei bitterster Kälte Tropenhelme tragen. Wie ich höre, trägt man heute kaum noch Tropenhelme; zwei meiner Töchter, die mit ihren Männern jahrelang in Indien weilten, trugen sie selten und lachten über meine Idee, aber zu meiner Zeit waren sie vorgeschrieben. Quetta ist die grösste Stadt in Belutschistan, und Belutschistan ist eine Art Pufferstaat zwischen Indien und Afghanistan. Ich hielt mich dort fast zwei Jahre auf, allerdings mit Unterbrechungen, da ich verschiedene Male nach Indien hinunter musste und dabei die Sindwüste fünfmal durchquerte. Belutschistan hat wenig Vegetation, ausser Wacholderbäumen, und erst wenn das Land bewässert wird, kann etwas wachsen. Ich habe selten anderswo schönere Rosen gesehen als in Quetta, und zu meiner Zeit prangten sie in jedem Garten. Im Frühling schwelgt die ganze Landschaft in Chrysanthemen, und später kommen die Sonnenblumen. Damit ist eine Geschichte verknüpft. Eines Sonntags nachmittag sprach ich in meiner Bibelstunde in Quetta und erzählte den Soldaten, wie das menschliche Wesen sich ganz natürlich und normalerweise zu Gott wendet. Ich benutzte die Sonnenblume als Beispiel dafür und wies darauf hin, dass sie deshalb ihren Namen trägt, weil sie sich stets dorthin wendet, wo die Sonne gerade am Himmel steht. Am nächsten Morgen kam ein Soldat an die Tür unseres Wohnzimmers und fragte mich mit sehr ernster Miene, ob ich nicht vielleicht einen Augenblick in den Garten kommen könne. Ich folgte ihm, und ohne ein Wort zu sagen, zeigte er auf die Sonnenblumen. Jede einzelne davon, und es waren ihrer Hunderte, stand mit dem Rücken zur Sonne. In Quetta war es, wo ich zum erstenmal eine Verantwortung zu tragen hatte und wo ich mehr oder weniger auf mich selbst gestellt war, obwohl Miss Clara Shaw bei mir war. Die Mannschaften hatten sich im dortigen Soldatenheim derart eingenistet, dass sie ernstlich ausser Kontrolle gerieten. Die leitende Dame bekam es vermutlich mit der Angst zu tun, obwohl sie wahrscheinlich nicht so viel Angst hatte wie ich. Eine Soldatenbande machte sich Abend für Abend einen |
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Last updated Saturday, February 14, 1998 © 1998 Netnews Association. All rights reserved. |