Netnews Homepage     Zurück     Vorwärts      Index      Inhaltsverzeichnis
Die unvollendete Autobiographie, Seite 60 ff. (engl.)
Lebenswandels abwenden können, und ich habe immer wieder gesehen, wie sie jene Wirklichkeit in sich fanden, die Paulus «Christus in euch, die Hoffnung auf Herrlichkeit» nennt. Auf dieses Wissen stütze ich mein ewiges Seelenheil und das Heil der ganzen Menschheit. Ich weiss, dass Christus lebt und dass wir in ihm leben, und ich weiss, dass Gott unser Vater ist und dass unter Gottes grossem Plan alle Seelen am Ende ihren Weg zu ihm zurückfinden werden. Ich weiss, dass das Leben Christi im menschlichen Herzen jeden Menschen vom Tod zur Unsterblichkeit führen kann. Ich weiss, dass eben weil Christus lebt, auch wir leben werden und dass wir durch sein Leben erlöst werden. Menschliche Bekehrungsmethoden erscheinen mir jedoch oft recht zweifelhaft, und ich glaube, dass Gottes Weg meistens der beste ist und dass er uns den Rückweg zur Heimat oft selbst finden lässt, in der Gewissheit, dass in uns allen etwas von ihm Selbst steckt, was göttlich ist, was nie stirbt und was sich zur Wissenserfahrung durchringt. Ich weiss, dass nichts im Himmel oder in der Hölle zwischen die Liebe Gottes und seine Kinder zu treten vermag. Ich weiss, dass er auf Posten steht und wacht, «bis der letzte müde Pilger seinen Weg in die Heimat gefunden hat». Ich weiss, dass alle Dinge denen zum Besten dienen, die Gott lieben, und das bedeutet keine Liebe zu einer weit entfernten, abstrakten Gottheit, sondern zu unseren Mitmenschen. Liebe zu unseren Mitmenschen ist ein sichtbares - vielleicht noch unklar erkanntes, aber immerhin bestimmtes - Anzeichen dafür, dass wir Gott lieben. Elise Sanders lehrte mich das durch ihr Leben und ihre Liebe, ihren Mutterwitz und ihr Verstehen.

Mein Aufenthalt in Irland währte nicht sehr lange, aber es war eine höchst angenehme Zeit für mich. Ich war vorher noch nie in Irland gewesen und verbrachte einen grossen Teil meiner Zeit in Dublin und im Lager Currach, nicht weit von Kildare. Während ich in Currach war, hatte ich eine besonders merkwürdige Aufgabe zu erfüllen; meine Familie wäre entsetzt gewesen, wenn sie davon gewusst hätte. Man darf nicht vergessen, dass junge Mädchen damals nicht solche Freiheiten hatten wie heute, und schliesslich war ich auch erst zweiundzwanzig.

Eine der Batterien der Königlichen Feldartillerie war damals in den Newbridge Kasernen untergebracht, und einige von diesen Leuten (die ich während des Sommers auf dem Übungsplatz kennengelernt hatte) luden mich ein, sie jeden Abend in ihrem Temperenzlerklub für Soldaten zu besuchen. Das bedeutete für mich um 18 Uhr abends hingehen und spät in der Nacht nach Hause kommen, weil sie für mich die Erlaubnis erwirkt hatten, nach Kantinenschluss noch eine Andacht für sie abzuhalten. Nach einigem Verhandeln durfte ich die Einladung annehmen, und so radelte ich jeden Abend nach der abscheulichen britischen Mahlzeit die man «high tea» (Tee mit Aufschnitt) nennt, dorthin. Zwischen 23 Uhr und Mitternacht fuhr ich dann immer wieder nach Hause begleitet von zwei Soldaten, die von den Mannschaften selbst allabendlich dazu bestimmt wurden und dafür Urlaubskarten erhielten. Ich wusste nie, ob mein Begleiter ein Lump oder ein netter, zuverlässiger Christenmensch sein würde. Ich glaube, sie losten aus, wer mich nach Hause bringen sollte, und wenn das Los auf einen Trinker fiel, so sahen seine fürsorglichen Kameraden zu, dass er an dem Tag von der Kantine wegblieb. Immerhin stelle man sich einmal ein junges Mädchen mit meiner erschreckend behüteten, viktorianischen Erziehung vor, wie sie jeden Abend mit zwei ihr gänzlich unbekannten Tommies nach Hause radelte. Und kein einziges Mal ist dabei ein Wort gefallen, an dem selbst die sprödeste alte Jungfer hätte Anstoss nehmen können, und ich selbst hatte den grössten Spass dabei!

Die Leute aus der Kantine kamen jeden Abend zu mir ins Temperenzler-Zimmer. Ich gab mir keine Mühe, sie irgendwie zum Besuch der Andacht zu bewegen, aber wir kamen gut miteinander aus. Dort lernte ich die verschiedenen Arten von Betrunkenen zu unterscheiden. Darunter war natürlich auch der streitsüchtige Trinker, und es gab gar manche Schlägerei, bei der ich mich dazwischen warf; ich bekam dabei niemals etwas ab, obwohl ich mich bestimmt als sehr lästig erwies. Dieser Typus machte mir nie viel zu schaffen, und mein Dazwischentreten brachte mich nie zu Schaden. Die Militärpolizisten begrüssten meine Hilfe als Friedensstifter, und ich erwies mich mit der Zeit als ziemlich sachkundig. Dann gab es den zärtlichen Trinker, und vor ihm hatte ich offen gestanden Angst. Ich wusste nie, was er sagen oder tun würde, doch kam ich bald darauf, immer einen Stuhl oder Tisch zwischen uns zu stellen. Löwenbändiger wissen aus Erfahrung, wie nützlich ein fester Stuhl zwischen ihnen und einem ärgerlichen Löwen sein kann, und ich kann das mit vollem Vertrauen auch im Fall eines zärtlichen Betrunkenen empfehlen. Der vergrämte Trinker ist weit schwieriger zu behandeln, aber man findet ihn weniger oft. Man lernt ausserdem zwischen Leuten zu unterscheiden, denen der Alkohol hauptsächlich in die Beine geht und anderen, bei denen mehr der Kopf leidet und die anzuwendende Methode ist dementsprechend verschieden. Oft wurde ich während meiner damaligen Tätigkeit von den Militär-Polizisten um Hilfe gebeten, einen Betrunkenen ruhig nach Hause zu bringen. Sie hielten sich dann gewöhnlich ausser Sicht, aber nahe bei der Hand, und es muss ein erbaulicher Anblick gewesen sein, wenn ich so mit meinem Betrunkenen im Zickzack den Weg entlang pilgerte. Vielleicht kann man sich das Entsetzen meiner Tante vorstellen, wenn sie jemals dieses unregelmässige Fortschreiten gesehen hätte, aber ich tat das alles «um Jesu willen» und nicht ein einziges Mal hat ein Mann versucht, frech zu werden. Trotzdem hätte ich meine eigenen Töchter höchst ungern in einer ähnlichen Lage gewusst, nach dem Prinzip, dass die Gans manches tun darf, was sich für das Gänschen nicht immer schickt.

Meine Arbeit war voller Abwechslung: Ich musste die Buchhaltung besorgen, die Blumen in den Leseräumen arrangieren, für Soldaten Briefe schreiben, endlose religiöse Versammlungen abhalten und die täglichen Andachten leiten, eifrig meine Bibel studieren und sehr sehr artig sein. Ich kaufte alle möglichen Bücher, um besser predigen zu lernen, wie etwa Anleitungen für Anfänger, Konzepte für Kanzelreden, Lehren für Laienprediger und andere mit ähnlich lautenden Titeln. Oft war ich in Versuchung, selbst eins zu veröffentlichen, vielleicht mit dem Titel «Ideen für Idioten», aber ich kam damit nicht weit. Soweit ich das feststellen konnte, kam ich mit meinen Mitarbeitern gut aus. Mein stark entwickelter Minderwertigkeitskomplex liess mich sie stets bewundern, und das schaltete jede Eifersucht wirksam aus.

Eines Morgens erhielt Elise Sandes einen Brief, der sie sichtlich beunruhigte. Die Leiterin des Werks in Indien, Theodora Schofield, war kränklich und es schien angezeigt, sie zur Erholung in die Heimat zurückzubringen. Es war aber anscheinend niemand da, den man entbehren und an ihre Stelle hinaussenden könnte. Sie selbst war schon zu alt und Eva Maguire war unabkömmlich. Miss Sandes sagte mit der ihr eigenen Offenheit, sie würde mich hinschicken, wenn sie das Geld dazu hätte, denn «wenn du auch nicht sehr viel taugst, so bist du wahrscheinlich immer noch besser als gar keiner». Indienreisen waren zu jener Zeit kostspielig und Miss Sandes musste erst einmal Theos Rückreise bezahlen. Mit meiner üblichen, religiösen Gelassenheit sagte ich: «Wenn Gott will, dass ich gehe, wird er auch das Geld schicken». Sie sah mich an, ohne etwas dazu zu bemerken. Zwei oder drei Tage später, als wir beim Morgenfrühstück sassen, hörte ich sie beim öffnen eines Briefes laut rufen. Dann reichte sie mir den Umschlag hin. Er enthielt keinen Brief und keinerlei Hinweis auf den Absender. Aber ein Bankscheck lag darin über fünfhundert Pfund, und quer darüber standen die Worte: «Für das Werk in Indien». Keiner von uns beiden wusste, wo das Geld hergekommen war, aber beide nahmen wir es als unmittelbare Gabe Gottes an. Das Problem der Überfahrt war damit gelöst und wiederum fragte sie mich, ob ich sofort für sie nach Indien gehen würde, wobei sie wieder betonte, dass ich zwar nicht viel wert sei, dass sie aber im Augenblick niemand andern habe. Manchmal frage ich mich, ob nicht mein Meister das Geld geschickt habe. Es war wesentlich, dass ich nach Indien gehen und bestimmte Erfahrungen sammeln sollte, um mich auf diese Weise auf die Tätigkeit vorzubereiten, von der er mir Jahre zuvor gesagt hatte, dass ich dafür in Frage käme. Ich weiss es nicht, und ich habe ihn auch nie danach gefragt, weil das nicht zu den Dingen gehört, die von Bedeutung sind.

Ich schrieb meinen Leuten, ob ich gehen dürfe (ich wäre ohnehin gegangen), wollte aber die Form wahren und wenigstens höflich sein. Meine Tante, Frau Clara Parsons, schrieb mir, sie hätte nichts dagegen, falls ich eine Rückfahrkarte hätte; ich besorgte mir also auch eine Rückfahrkarte. Dann fuhr ich nach London, um mich für Indien auszustaffieren, und da ich damals eigentlich keine Geldsorgen hatte, kaufte ich nach Herzenslust und mit grösstem Vergnügen ein. Ich «leistete» mir wirklich etwas. Als - nebenbei bemerkt - mein Gepäck mit all den neuen Sachen später in Quetta in Belutschistan ankam, fand ich, dass man den gesamten Inhalt gestohlen und dafür dreckige Lumpen unterschoben hatte. Glücklicherweise hatte ich genug Sachen bei mir, aber es war meine erste wichtige Erfahrung von der Vergänglichkeit aller Dinge. Da ich jedoch auf Kleider Wert legte, was ich auch noch heute tue, so bestellte ich mir eine neue Ausstattung.

Meine Schwester und Tante brachten mich in Tilbury Docks zum Schiff und ich gestehe, dass mir noch nie etwas so gut gefallen hat, wie die dreiwöchige Seereise nach Bombay. Wie alle Zwillingsmenschen war ich immer gern auf Reisen und da ich damals ausserdem eine schreckliche kleine Vornehmtuerin war, schwelgte ich in dem Bewusstsein, dass mein von einem Onkel geliehener Deckstuhl einen Adelstitel aufwies. Kleine Dinge gefallen kleinen Geistern, und mein Denkvermögen war damals noch sehr klein - praktisch noch im Schlummerzustand.

Ich erinnere mich noch gut an diese erste Reise. Im Speisesaal sassen neben mir am Tisch zwei Frauen und fünf offensichtlich wohlhabende und welterfahrene Männer. Sie hatten uns drei Frauen offensichtlich gern, aber ich war ganz entsetzt über sie. Sie sprachen von Glücksspielen und Pferderennen, sie tranken viel, spielten Karten und - was das Schlimmste von allem war - sie sprachen nie ein Tischgebet. Nach der ersten Mahlzeit war ich völlig entgeistert. Nach dem Gabelfrühstück ging ich in meine Kabine und betete inbrünstig um die Kraft, das Richtige zu tun. Als die Zeit der Hauptmahlzeit nahte, verliess mich mein Mut, und ich musste noch mehr beten. Am nächsten Morgen, beim ersten Frühstück, hielt ich jedoch eine Rede. Ich war deswegen besonders früh in den Speisesaal gegangen, noch bevor die beiden anderen Frauen zu Tisch kamen, aber alle fünf Männer waren anwesend. Ich war zu Tode erschrocken und schämte mich entsetzlich, aber ich tat, was meiner Ansicht nach Jesus tun würde. Ich sah die Männer an und sagte nervös und eilig: «Ich trinke nicht und ich tanze nicht; ich spiele auch keine Karten und gehe nicht ins Theater; ich weiss, dass sie mich deshalb verabscheuen, und ich denke, ich gehe lieber und suche mir einen anderen Tisch». Totenstille trat ein. Dann erhob sich einer der Männer (mit sehr bekanntem Namen, weshalb ich ihn nicht erwähne), lehnte sich über den Tisch und streckte mir seine Hand hin mit den Worten: «Schlagen sie ein. Wenn sie zu uns halten, halten wir zu ihnen, und wir wollen uns alle Mühe geben, artig zu sein». Ich hatte eine wundervolle Reise. Jene Männer waren unglaublich nett zu mir und ich gedenke ihrer mit Sympathie und in Dankbarkeit. Es war meine schönste Reise, und da ich innerhalb von fünf Jahren sechsmal zwischen London und Bombay hin- und herfuhr, so habe ich einige Erfahrung. Ob sich auch diese Männer amüsierten, ist eine andere Frage, aber sie waren stets nett zu mir. Einer von ihnen sandte mir später eine Menge religiöser Bücher für eines der Soldatenheime. Ein zweiter sandte mir einen netten Scheck über eine fette Summe, und ein dritter, ein bekannter Eisenbahnmagnat, sandte mir eine Rundreisekarte, mit der ich während meiner ganzen Indienzeit auf der Great Indian Peninsula Railroad frei umherfahren konnte.

Bei meiner Ankunft in Bombay hatte ich einen Schiffswechsel geplant, und ich wollte mit einem Dampfer der British India Linie nach Karachi und von dort nach Quetta in Belutschistan weiterreisen. Aber es sollte damals nicht dazu kommen, obwohl ich diese Fahrt später unternahm. Ein Telegramm erwartete mich mit der Nachricht, ich solle in Bombay aussteigen und mit dem Expresszug nach Meerut fahren, das in Zentralindien liegt. Ich war entsetzt. Ich reiste zum ersten Mal in meinem Leben allein. Ich war in einem Erdteil, wo ich keine einzige Menschenseele kannte; ich musste nicht nur meine Schiffskarte nach Karachi einlösen, sondern mir auch noch eine Fahrkarte auf der G. I. P. nach Meerut besorgen. Wie eine Brieftaube zum heimischen Nest, so eilte ich zum Christlichen Verein junger Mädchen, wo man zu mir sehr gut war und für mich den geschäftlichen Teil erledigte. Wiederum darf man nicht vergessen, dass ich jung und hübsch war, und dass junge Mädchen damals einfach nicht so umherreisten, wie ich es tat.

Am Bahnhof in Bombay machte ich eine sehr menschliche und lehrreiche Erfahrung. Sie beweist, wie wundervoll doch die Menschen sind, und diese Bestätigung ist ja auch einer der Zwecke dieses Buches. Ich war, wie der Leser bereits festgestellt haben dürfte, ein recht selbstgefälliger Tugendbold, wenn auch voll guter Absichten. Ich war beinahe zu gut zum Leben und bestimmt heilig genug, um mich verhasst zu machen. Ich hatte mich an dem allgemeinen Bordleben nicht beteiligt, sondern war mit meiner grossen Bibel unterm Arm auf Deck umherstolziert. Es war da ein Passagier an Bord gewesen, den ich schon seit meiner Abfahrt von London zur ganz besonderen Zielscheibe meiner Verabscheuung gemacht hatte. Er war der Hauptmacher an Bord; er leitete die täglichen Verlosungsspiele; er sorgte für Tanzveranstaltungen und arrangierte die Bühnenvorstellungen; er spielte Karten

Netnews Homepage     Zurück     Vorwärts      Index      Inhaltsverzeichnis
Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.