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Die unvollendete Autobiographie, Seite 55 ff. (engl.)
meine eigene, kleine Bibelklasse gewöhnt und hatte auch gelegentlich bei Gebetsversammlungen gesprochen, so dass ich überhaupt kein Gefühl der Furcht verspürte. Ich war sicher, dass ich es schaffen würde. Es war doch viel leichter als mich einem Soldaten vorzustellen, ihn nach seinem Namen und Heimatort zu fragen, mich neben ihn ans Damebrett zu setzen, um dann allmählich auf das ernste Thema seiner Seele zu sprechen zu kommen. Ich war deshalb durchaus bereit, die Versammlung zu übernehmen.

Ich fand mich also eines schönen Sonntagnachmittags auf einem Podium in einem grossen Saal mit ein paar hundert Soldaten und einigen Angehörigen der königlich irischen Landpolizei. Ich legte ganz flott los, blieb dann langsam stecken, bekam Lampenfieber, warf einen Blick auf all die Männer, brach in Tränen aus und rannte vom Podium weg. Ich schwor mir, selbst wilde Pferde könnten mich nicht zurückschleifen, aber nach gebührender Zeit und im Verfolg meiner üblichen Frage: «Was würde Jesus von mir erwarten?» kehrte ich kleinlaut wieder. Es kam aber komischerweise doch anders. Als ich am folgenden Abend nach jenem entscheidenden Entschluss in den Versammlungsraum ging, um alles fertigzumachen, und gerade dabei war, das Gas anzuzünden, da blies mich ein Knall zu Boden und versengte mein Haar, so dass ich die Versammlung an dem Abend doch nicht übernehmen konnte. Die Explosion wirkte wie eine Notbremse.

Einige Wochen später kam ich zurück. Diesmal hatte ich meine Ansprache auswendig gelernt und mein Bemühen machte sich bezahlt, bis ich ungefähr in der Mitte an eine Stelle kam, wo ich ein Gedicht zitieren wollte, um meinem Thema etwas Schwung und Abwechslung zu geben. Ich hatte das Gedicht mit grossem Erfolg vor meinem Spiegel eingeübt. Die ersten beiden Zeilen klappten gut, und dann blieb ich stecken; ich wusste einfach nicht mehr, wie es weiterging. Ich war auf einem toten Punkt angelangt, rot bis in die Haarwurzeln und fühlte mich schwindelig. Da ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund des Saales: «Keine Angst, Fräulein, ich sage es für sie zu Ende, und das gibt ihnen Zeit zu überlegen, was sie dann noch sagen wollen». Ich war aber schon vom Podium verschwunden und löste mich in meinem Zimmer in Tränen auf. Ich hatte vor Jesus und vor mir selbst versagt und ich sollte wohl lieber alles aufgeben. Ich lag die ganze Nacht wach und weigerte mich auch, einer Mitarbeiterin die Tür zu öffnen, die hereinkommen und mich trösten wollte. Trotzdem hielt ich aus. Mein Stolz wollte es nicht zulassen, dass ich mich öffentlich zu sprechen weigerte, und allmählich gewöhnte ich mich daran, einer Menge von Männern die Bibel auszulegen.

Allerdings war das eine schmerzhafte Prozedur. Die ganze Nacht vor der Ansprache lag ich gewöhnlich wach und zerbrach mir den Kopf, was in aller Welt ich wohl sagen sollte; und die darauf folgende Nacht blieb ich ebenso wach und schämte mich über die jämmerliche Art, wie ich's gesagt hatte. Dieses lächerliche Hin und Her ging weiter, bis ich in einer solchen Nacht einmal gegen mich selbst Front machte und nicht locker liess, bis ich wusste, wo mein Fehler lag. Ich kam zu der Überzeugung, dass ich unter reinem Egoismus litt und mich selbst zu sehr in den Mittelpunkt stellte; ich machte mir zu viel Gedanken darüber, was die Leute wohl von mir dachten. Die Erziehung meiner Kindheit erlitt damit ihren ersten, harten Schlag. Am Ende sagte ich mir: wenn ich wirklich in meinem Thema aufginge, wenn ich wirklich meine Zuhörer und nicht Alice La Trobe-Bateman liebte und wenn ich auf den Punkt gelangte, wo ich mir überhaupt schnuppe wäre (damals benutzte ich dieses Wort noch nicht), dann sollte ich's doch schaffen und wirklich nützlich sein können.

Merkwürdigerweise hatte ich von da ab keine Schwierigkeiten mehr. Ich gewöhnte mich daran, einen Saal in Indien zu betreten, der vielleicht mit vier- oder fünfhundert Soldaten vollgestopft war, auf einen Tisch zu steigen und mir nicht nur Gehör zu verschaffen, sondern (was mehr bedeutet) auch aufmerksame Zuhörer zu haben. Ich wurde eine gute Rednerin und lernte, gern zu sprechen, so dass ich mich heute auf einem Podium wirklich wohler fühle als irgendwo sonst. Belfast gab mir die Gelegenheit, mich in dieser Hinsicht freizumachen.

Ich weiss noch, wie ich mich einige Jahre später über den ungeheuren Erfolg meiner Bibelstunde aufrichtig geschmeichelt fühlte, die ich in Lucknow, in Indien, jeden Sonntagabend hielt. Eine grosse Anzahl von Armee-Schulmeistern hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Sonntag zu kommen und (mit einigen Hundert anderer Männer) mir zuzuhören; darüber begann mir etwas der Kamm zu schwellen. Ich dachte, ich müsste doch wirklich gut sein, wenn solch intelligente Leute Sonntag um Sonntag herkommen, um mich zu hören. Ich legte mich also gewaltig ins Zeug. Am Ende der Vortragsreihe überreichten sie mir feierlich ein Geschenk. Der Rangälteste unter ihnen trat nach Beendigung meiner Ansprache vor, übergab mir eine ellenlange, mit einem breiten, blauen Band geschmückte Pergamentrolle und hielt mir eine hübsche Rede. Ich war damals noch zu schüchtern, um das Pergament gleich in ihrer Gegenwart aufzurollen; aber als ich am Abend wieder in meinem Quartier war, machte ich die blaue Schleife auf und fand - in wundervoller Rundschrift - ein genaues Verzeichnis aller grammatikalischen Fehler, die ich begangen, und aller bildlichen Redewendungen, die ich während der ganzen Vortragsreihe durcheinandergebracht hatte. Ich betrachtete mich als geheilt und für alle Zeit erlöst, als ich feststellen konnte, dass ich danach über mich selbst so lachen musste, dass mir die hellen Tränen herunterliefen.

Wie viele gute Redner, die nur kurze Stichworte benutzen und in der Hauptsache frei sprechen und sich die nötigen Gedanken gewissermassen von ihren Zuhörern herauslocken lassen, kann man mich stenographisch nicht gut wiedergeben. Ich lese dann die Berichte und frage mich: «Kann ich das wirklich so gesagt haben?» Ich glaube bestimmt, dass das Geheimnis eines guten Redners ausser einer natürlichen Sprachbegabung in der Fähigkeit liegt, seine Zuhörer wirklich gern zu haben und sie dann von jeder Spannung zu befreien, indem man einfach menschlich zu ihnen spricht. Ich habe nie versucht, belehrende Vorlesungen zu halten. Ich spreche zu einer Versammlung genauso, wie zu einem einzelnen Menschen. Ich ziehe sie in mein Vertrauen hinein. Ich gebe mir nie den Anschein, alles zu wissen. Ich sage: «Das ist meine heutige Ansicht, und wenn ich sie später ändern sollte, dann sage ich Bescheid». Ich stelle Wahrheit (so, wie ich sie sehe) nie in der Weise dar, dass sie dogmatisch erscheint. Ich sage den Leuten oft: «In fünftausend Jahren wird diese angeblich so fortschrittliche Lehre den kleinen Kindern wie das Abc vorkommen, was nur beweist, wie sehr wir heute noch in den Kinderschuhen stecken». Wenn am Ende die Zuhörer aufgefordert werden, Fragen zu stellen - was mir immer besonders Spass macht - dann macht es mir gar nichts aus, wenn ich zugeben muss, dass ich auf eine Frage keine Antwort weiss, und das passiert mir recht häufig. Redner, die etwa glauben, es schade ihrem Ansehen, wenn sie Mangel an Wissen zugeben und die dann ausweichend oder hochtrabend antworten, haben noch viel zu lernen. Die Zuhörer haben den Redner gern, der ihnen ins Gesicht sehen und zugeben kann: «Davon habe ich wirklich keine blasse Ahnung».

Um wieder auf Belfast zurückzukommen. Meine Vorgesetzten hatten anerkannt, dass ich eine ziemliche Gabe hatte, Seelen zu erlösen, und ich erwies mich darin als so tüchtig, dass Miss Sandes mich zu sich in das Heim der Artillerie-Schiesschule in Mittelirland holen liess, um mit ihr zusammenzuarbeiten und mich gründlich weiter auszubilden. Das Heim lag in einer entzückend grünen Landschaft, und ich werde nie den Tag meiner Ankunft vergessen. Trotz aller Schönheit der Umgebung war mein erster Eindruck: Eier. Überall nichts als Eier. Eier in der Badewanne, Eier in jeder Pfanne, Eier in den Schubladen meiner Kommode und in Kisten unter meinem Bett. Wenn ich mich recht entsinne, waren wohl hunderttausend Eier im Haus und sie mussten irgendwie untergebracht werden. Wie ich feststellte, brauchten wir jeden Abend zweiundsiebzig Dutzend Eier in der Kantine des Soldatenheims, und da wir im ganzen drei Heime in der Umgebung mitversorgten, brauchten wir unzählige Eier. Eier hatten deshalb den Vorrang vor allem anderen, - mit Ausnahme des Evangeliums.

Meine erste Aufgabe jeden Morgen, nachdem ich eine ruhige Stunde mit meiner Bibel unter einem Baum auf einer Wiese verbracht hatte, war Semmel backen - Hunderte von Milchbrötchen - die ich dann oft im Lauf des Tages auf einen Ponywagen (allerdings war das Pony ein Esel) laden und zu den einzelnen Holzhütten bringen musste, in denen sich die Soldaten abends zusammenfanden. Eines Tages brachte dieser Esel mich in grösste Verlegenheit. Ich zottelte ganz vergnügt einen Feldweg entlang, als ich plötzlich eine Geschützbatterie im Galopp auf dem gleichen Weg mir entgegenkommen sah. Ich versuchte in grosser Eile nach dem Wegrand hin auszubiegen, aber der verflixte Esel stemmte einfach seine vier Beine auf den Boden und weigerte sich, vom Fleck zu gehen. Kein Zuruf und keine Peitsche halfen im geringsten. Die Batterie kam wenige Schritte vor uns zum Halten. Die Offiziere brüllten mir zu, Platz zu machen. Ich konnte einfach nicht. Schliesslich kam eine Abteilung von Leuten auf uns zu, die mich samt Wagen und Esel hochhoben und im Strassengraben abluden, worauf die Batterie wieder weiterfuhr. Die Artilleristen sorgten dafür, dass ich diese Episode nicht so schnell vergass. Sie verbreiteten das Gerücht, dass meine Brötchen so schwer wären, dass mein armer Esel sie nicht von der Stelle bewegen könnte; und hin und wieder humpelte einer von ihnen in meine Kantine und beschwerte sich darüber, dass ihm eine Krume meiner Brötchen auf den Fuss gefallen sei. Ich gewöhnte mich an das Getöse der grossen Geschütze und auch daran, dass sich die Mannschaften am Abend nach einer Schiessübung gegenseitig anschrieen, weil sie davon taub waren. Ich gewöhnte mich an Betrunkenheit und lernte, mir nichts aus Betrunkenen zu machen und mit ihnen umzugehen, aber an Spiegeleier gewöhnte ich mich nie, besonders wenn es Kakao dazu gab. Ich glaube, ich habe mehr Kakao, Eier und Zigaretten verkauft, als die meisten anderen Menschen.

Es waren glückliche, arbeitsreiche Tage. Ich verehrte Miss Sandes wie jeder andere. Ich liebte sie wegen ihrer Schönheit, ihrer Gedankenkraft, ihrer Bibelkenntnis, ihres menschlichen Verstehens für andere und ausserdem wegen ihres sprudelnden Humors. Am meisten liebte ich sie, weil ich herausfand, dass auch sie mich liebte. Wir schliefen im gleichen Zimmer des komischen Häuschens, in dem wir wohnten, und bis heute sehe ich sie noch im frühen Morgenschein mit einem schwarzen Strumpf über ihren Augen im Bett liegen, um das Licht abzublenden. Sie war so viel grossmütiger und weitherziger in ihren Ansichten als ihre Mitarbeiter. Ich erinnere mich noch, wie sie ihnen mit den Augen zublinzelte, ohne ein Wort zu sagen. Wir alle rackerten uns ab, um Seelen zu erlösen und sie sah zu, wünschte uns viel Glück und liess oft ein Wort fallen, das uns auf die gesuchte Lösung brachte; aber ich weiss bestimmt, dass sie sich oft mit grossem Vergnügen über uns lustig machte, während wir uns mühten und anstrengten.

Einmal gab sie mir einen wirklichen Schock, mit dem sie - wie ich bestimmt glaube - bei mir einen Zyklus innerer Selbstbefragung einleitete, der mich am Ende aus meinem theologischen Sumpf herausbrachte. Drei Wochen lang hatte ich mich damit abgemüht, die Seele eines vollkommen nichtswürdigen, verschmutzten kleinen Soldaten zu erlösen. Er war, was man in England ein «nasty piece of work» nannte, ein elendes Produkt - ein schlechter Soldat und ein schlechter Mensch. Ich spielte Abend für Abend mit ihm Dame (was er gern mochte) und lotste ihn zu den Andachten, was er über sich ergehen liess. Ich bat ihn dringend, sich erlösen zu lassen, aber ohne Erfolg. Elise Sanders sah mir lächelnd zu, bis sie anscheinend zu dem Schluss kam, dass es jetzt lange genug gedauert habe. Eines Abends, als sie gerade in der mit Soldaten vollgestopften Holzhütte am Klavier stand, rief sie mich also zu sich hinüber und es entwickelte sich folgendes Zwiegespräch:

«Alice, siehst du den Mann da drüben?», wobei sie auf mein Problem hindeutete.

«Ja», sagte ich, «du meinst den Mann, mit dem ich immer Dame gespielt habe?»

«Na gut, liebes Kind, willst du dir mal bitte seine Stirn ansehen?» Ich sah hin und bemerkte, dass sie mir ziemlich niedrig schien. Sie nickte zustimmend.

«Jetzt schau dir seine Augen an. Was ist an ihnen auszusetzen?»

«Sie scheinen ziemlich eng beieinander zu liegen», antwortete ich.

«Richtig. Und wie steht es mit seinem Kinn und seiner Kopfform?»

«Aber er hat doch überhaupt kein Kinn, und sein Kopf ist sehr klein und vollkommen rund», antwortete ich voller Verwunderung.

«Na also, liebe Alice, warum überlässt du ihn dann nicht Gott?» Mit diesen Worten verliess sie mich. Seitdem habe ich viele Menschen Gott überlassen.

An dieser Stelle möchte ich formell festhalten, dass ich zur damaligen Zeit an Bekehrung glaubte und dass ich auch heutigen Tages an Bekehrung glaube. Ich glaubte damals, das Christus die Macht besitzt, zu erlösen, und heute glaube ich das tausendmal mehr. Ich weiss, dass sich Menschen von den Irrtümern ihres

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.