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Die unvollendete Autobiographie, Seite 28 ff. (engl.)

Von der Zeit an, als ich (etwa 13 Jahre alt) London verliess, bis zum Abschluss meiner Ausbildung, war mein Leben voller Wechsel und steter Bewegung. Weder meiner Schwester noch meine eigene Gesundheit wurde für besonders gut gehalten, und wir verbrachten verschiedene Winter im Ausland an der französischen Riviera, wo man uns eine kleine Villa mietete, neben der grösseren, in der ein Onkel und eine Tante wohnten. Dort hatten wir französische Lehrer und eine Gouvernante, die als Anstandsdame mit uns wohnte, und wir wurden ausschliesslich in französischer Sprache unterrichtet Die Sommer verlebten wir im Haus einer anderen Tante in Südschottland, und von dort aus fuhren wir öfters zu anderen Verwandten und Bekannten in Galloway auf Besuch. Heute weiss ich, wie reich dieses Leben an Erfahrungen und Bekanntschaften war; es war voller Musse und Schönheit und wirklicher Kultur. Im Herbst waren wir dann unten in Devonshire, stets begleitet von Miss Godby, einer Hauslehrerin, die zu uns kam, als ich zwölf Jahre alt war und bei uns blieb, bis ich im Alter von achtzehn in ein Pensionat nach London ging. Sie war die einzige Person, an der ich einen sicheren Halt hatte. Sie gab mir ein Gefühl der Zugehörigkeit und war einer der wenigen Menschen in meinem damaligen Leben, von denen ich genau wusste, dass sie mich wirklich liebten und an mich glaubten.

Drei Menschen gaben mir zu jener Zeit das Gefühl dieses Vertrauens. Einer war meine Tante, Frau Maxwell, von der ich bereits gesprochen habe. Wir verbrachten jeden Sommer bei ihr und wenn ich daran zurückdenke, escheint sie mir als eine der grundlegenden, bestimmenden Kräfte meines Lebens. Sie gab mir einen Schlüssel zum Leben, und bis zum heutigen Tag fühle ich, dass alles, was ich irgendwie zu leisten vermochte, auf ihren tief geistigen Einfluss zurückgeführt werden kann. Bis zu ihrem Tod blieb sie brieflich in enger Verbindung mit mir, obwohl ich sie die letzten zwanzig Jahre vor ihrem Tod nicht mehr zu sehen bekam. Die andere Person, die mir stets Verständnis entgegenbrachte, war Sir William Gordon in Earlston. Er war kein Blutsverwandter, sondern durch Heirat mit mir verwandt, und wir nannten ihn alle bloss Onkel Billie. Er hatte als junger Leutnant den Todesritt der leichten Brigade bei Balaklava im Krimkrieg mitgemacht und gerüchtweise verlautet, dass er der einzige war, der «mit dem Kopf unterm Arm» von diesem Angriff zurückkehrte. Ich habe als Kind oft die goldenen Klammern berührt, welche die Chirurgie jener Zeit in seinen Schädel eingesetzt hatte. Auf alle Fälle trat er stets für mich ein, und ich höre ihn noch heute zu mir sagen (wie das häufig vorkam): «Ich verlass mich auf dich, Alice. Geh, deinen eigenen Weg. Er wird schon für dich der richtige sein».

Die dritte war die bereits erwähnte Hauslehrerin. Ich bin mit ihr stets in Verbindung geblieben und sah sie noch kurz vor ihrem Tod um 1934 herum. Sie war damals eine alte Dame, aber mir schien sie unverändert. Zweierlei interessierte sie damals. Sie fragte meinen Mann, ob ich noch an Christus glaubte, und schien sehr beruhigt, als er ihr sagte, das sei ganz bestimmt der Fall. Was sie ausserdem wissen wollte, bezog sich auf eine schreckliche Ungezogenheit in meiner Kinderzeit. Sie wollte wissen, ob ich mich noch daran erinnerte, wie ich eines Morgens, als ich ungefähr vierzehn war, ihre gesamten Schmucksachen in die Toilette warf und dann den Spüler zog. Allerdings wusste ich das noch. Es war ein vorsätzliches Vergehen. Ich war auf sie wegen irgendeiner Sache wütend, habe aber ganz vergessen, was es eigentlich war. Ich ging auf ihr Zimmer, raffte alles zusammen, was sie an Wertsachen besass - Armbanduhr, Broschen, Ringe usw. - und verfügte darüber in unwiederbringlicher Weise. Ich dachte, sie könne unmöglich merken, dass ich der Täter war. Ich entdeckte aber, dass sie mich und meine Entwicklung höher einschätzte als ihre eigenen Besitztümer. Ich war also, wie man sehen kann, kein nettes Kind. Nicht genug damit, dass ich zu Wutausbrüchen neigte, ich wollte auch immer feststellen, wie die Menschen darauf reagierten und aus welchen inneren Gründen sie sich geradeso und nicht anders betätigten oder benahmen.

Miss Godby hatte die Gewohnheit, ein Selbstprüfungsheft zu führen, in dem sie jeden Abend die Verfehlungen des Tages eintrug, wobei sie in einer Weise, die mir (von meinem heutigen Standpunkt aus) nahezu krankhaft erscheint, ihre Worte und Taten jedes Tages im Licht der Frage analysierte: «Was hätte Jesus in einem solchen Fall getan?» Ich hatte eines Tages im Verlauf meines neugierigen Nachstöberns dieses Buch bei ihr entdeckt und es mir zur Gewohnheit gemacht, ihre Aufzeichnungen sorgfältig durchzulesen. Auf diese Weise fand ich heraus, dass sie wusste, dass ich alle ihre Schmucksachen entwendet und vernichtet hatte, dass sie mir aber - aus Gründen der Selbstdisziplin und in der Absicht, mir zu helfen, - kein Wort sagen würde, bis mich mein eigenes Gewissen zur Beichte zwingen würde. Sie wusste, dass ich unvermeidlich beichten würde, denn sie hatte Vertrauen in mich - warum, kann ich mir nicht vorstellen. Nach drei Tagen ging ich zu ihr und sagte ihr, was ich getan hatte, musste aber feststellen, dass sie weit mehr darüber betrübt war, dass ich ihre persönlichen Papiere gelesen, als dass ich ihre Schmucksachen vernichtet hatte. Wohlgemerkt, ich gestand alles. Die Art und Weise jedoch, wie sie auf diesen Vorfall reagierte, gab mir ein ganz neues Gefühl für Wertmassstäbe. Es regte mich zu heftigem Nachdenken an, was für meine Seele gut war. Zum ersten Mal begann ich zwischen geistigen und materiellen Werten zu unterscheiden. So unehrlich zu sein, persönliche Papiere zu lesen, war in ihren Augen eine grössere Sünde als materielle Dinge zu vernichten. Sie gab mir den Anfangsunterricht zum ersten grossen Lehrsatz des Okkultismus: Zwischen dem Selbst und dem Nichtselbst sowie zwischen unkörperlichen und greifbaren Werten einen Unterschied zu machen.

Während sie bei uns war, machte sie eine Erbschaft, keine besonders grosse Summe, aber immerhin genug, um sie von der Notwendigkeit zu befreien, ihren Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Sie weigerte sich aber uns zu verlassen, da sie das Gefühl hatte (wie sie mir später erklärte, als ich älter war), dass ich ihrer Fürsorge und ihres Verstehens weiterhin bedurfte. Es besteht wohl kein Zweifel, dass ich in meinen menschlichen Beziehungen vom Schicksal begünstigt wurde und hauptsächlich deshalb, weil die Menschen so reizend, gut und verständnisvoll sind. Ich möchte öffentlich bekennen, dass Miss Godby und meine Tante Margaret mir etwas von solch wahrhaft geistiger Bedeutung mitgegeben haben, dass ich bis zum heutigen Tag der besonderen Note nachzuleben versuche, die sie angeschlagen haben. Sie waren ganz verschiedene Menschen. Miss Godby war unansehnlich, von einfacher Herkunft und durchschnittlicher Begabung, aber sie war innerlich gesund und liebevoll. Meine Tante war ausserordentlich schön und wegen ihrer Wohltätigkeit und religiösen Einstellung wohlbekannt, aber sie war ebenso gesund und liebevoll.

Mit 18 wurde ich zur Fortbildung in ein Mädchenpensionat nach London geschickt, während meine Schwester mit einer Gouvernante wieder nach Südfrankreich ging. Es war das erste Mal, dass wir getrennt wurden und das erste Mal, dass ich auf mich allein gestellt war. Ich glaube nicht, dass ich in der Schule besonders erfolgreich war; ich war gut in Geschichte und Literatur, wirklich sehr gut. Ich hatte eine gute, klassische Erziehung genossen und es geht eben doch nichts über eine intensive, individuelle Ausbildung, die ein Kind von einem tüchtigen und kultivierten Privatlehrer erhalten kann. In der Mathematik jedoch, selbst im gewöhnlichen Rechnen war ich einfach hoffnungslos, so schlecht, dass die Schule dieses Fach ganz und gar aus meinem Lehrprogramm strich, weil es unmöglich schien, ein grosses Mädchen von achtzehn Jahren mit zwölfjährigen Kindern rechnen zu lassen. Wenn ich mir irgendeinen Anspruch auf eine bleibende Erinnerung verschafft habe (was immerhin zweifelhaft erscheint), so deshalb, weil ich diejenige war, die einmal alle Federkissen sammelte und sie vom dritten Stock auf die Köpfe der Gäste und der Schulvorsteher hinunterfallen liess, als diese in feierlicher Prozession in den Speisesaal im Erdgeschoss marschierten. Dabei flüsterten mir die anderen Mädchen bewundernden Beifall zu.

Darauf folgte eine Zwischenpause von zwei sehr eintönigen und ereignislosen Jahren. Unser Vormund mietete uns ein kleines Haus in einer Kleinstadt in Hertfordshire in der Nähe von St. Albans, richtete uns dort mit einer Anstandsdame ein und überliess uns dann unseren eigenen Neigungen. Als allererstes beschlossen wir beide, uns Fahrräder zu kaufen, die besten, die es damals gab, und damit die Umgebung zu erforschen. Bis heute denke ich an die erwartungsvolle Spannung, als die beiden Holzverschläge eintrafen und wir uns daran machten, diese funkelnden Erzeugnisse der Technik auszupacken. Wir fuhren überall hin und hatten viel Spass. Wir erforschten die Landschaft, die damals noch ganz unberührt und noch nicht zu der Vorstadtgegend geworden war, die sie heute ist. Ich denke, es war zu jener Zeit, dass ich meinen Sinn für das Geheimnisvolle entwickelte, der sich später zu einer grossen Vorliebe für Kriminalromane und geheimnisvolle Geschichten auswuchs. Als wir an einem sonnigen Morgen unsere Fahrräder einen sehr steilen Hügel hinaufschoben, fuhren zwei Männer im Freilauf bergab an uns vorüber. Gerade in diesem Augenblick rief der eine seinem Begleiter über die Schulter hinweg zu: «Aber du kannst mir glauben, mein lieber Junge, es stand auf einem Bein und rannte wie verrückt». Immer noch denke ich über jenes Rätsel nach, ohne es gelöst zu haben.

Während dieser Zeit machte ich meinen ersten Versuch, zu unterrichten. Ich übernahm eine Klasse von Jungen im Kindergottesdienst. Sie waren so um fünfzehn Jahre alt und man sagte mir, sie seien ziemlich schwer zu bändigen. Ich machte zur Bedingung, dass ich sie in einem leeren Saal nahe der Kirche, aber nicht in der Kirche selbst unterrichten durfte, und dass man mich dabei allein lassen sollte. Wie sich herausstellte, sollte es uns nie an Unterhaltung mangeln. Erst brüllte alles wild durcheinander, und ich vergoss Tränen, aber nach Ablauf von drei Monaten waren wir eine engverbundene Gruppe guter Kameraden. Was ich ihnen beibrachte und wie ich das tat, ist längst vergessen. Alles, was mir in Erinnerung blieb, ist viel Lachen und Lärm und viel Freundschaft. Vielleicht habe ich auf die Dauer etwas Gutes erzielt, das weiss ich nicht, aber ich weiss genau, dass ich sie jeden Sonntagmorgen zwei Stunden lang davon abhielt, Unfug zu treiben.

Während jener Zeit und bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahr, als ich (ebenso, wie meine Schwester) das Verfügungsrecht über ein eigenes, kleines Einkommen erhielt, lebten wir das Leben von jungen Mädchen der Gesellschaft; wir machten drei sogenannte «Londoner Saisons» mit, nahmen an der üblichen Runde von Gartenfesten, Teegesellschaften und Diners teil, und kamen schliesslich auf die Kandidatenliste des Heiratsmarkts. Ich war damals tief religiös, musste aber zu Tanzveranstaltungen mitgehen, da ich meine Schwester nicht allein an solch sündhaften Betätigungen teilnehmen lassen wollte. Wie die Leute, die ich dort traf, mich aushalten konnten, weiss ich nicht. Ich war so religiös und so von Mystizismus durchdrungen, und hatte ein so krankhaft empfindliches Gewissen, dass es mir damals unmöglich war, mit jemandem zu tanzen oder neben ihm bei Tisch zu sitzen, ohne mich zu vergewissern, ob er «seinen Heiland gefunden» habe oder nicht. Das einzige, was mich vor einer kompletten Abfuhr und vor heftiger Verabscheuung bewahrte, war wohl die Tatsache, dass ich es ehrlich meinte, und dass es mir offensichtlich sehr peinlich war, diese Fragen stellen zu müssen. Ausserdem war ich sehr jung, sehr kindisch, sehr gut aussehend und gut gekleidet und - trotz meiner offensichtlichen Heiligkeit war ich flott, intelligent, gut erzogen und gelegentlich interessant.

Ich habe heimlich Respekt vor mir selbst, wenn ich zurückdenke, denn ich war so schrecklich befangen und zurückhaltend, dass ich jedesmal unbeschreibliche Qualen erlitt, wenn ich mich dazu aufraffte, dieser Sorge um die Seelen fremder Menschen Ausdruck zu geben.

Abgesehen davon, dass meine Tante und meine Gouvernante religiöse Menschen waren, was war es eigentlich, was mich in meinem geistigen Höherstreben so unbeirrt und so entschlossen machte, den guten, geraden Weg zu gehen? Dass diese Entschlossenheit durch meine religiöse Umgebung beeinflusst wurde, ist nicht der wirkliche Grund dafür; ich wusste für meine Geistigkeit keine bessere Ausdrucksform als jeden Morgen zur Kommunion zu gehen und nach Möglichkeit zu versuchen, andere Leute zu erlösen. Diese besondere Manifestation von Frömmigkeit und religiöser Beflissenheit war für mich unumgänglich, und mit der Zeit wuchs ich darüber hinaus. Welcher Umstand war es aber, der mich aus einem zu hässlichen Temperamentsausbrüchen geneigten, ziemlich eingebildeten und untätigen Menschenkind in eine geistige Arbeiterin verwandelte und - wenigstens vorübergehend - zur Fanatikerin machte?

Am 30. Juni 1895 hatte ich ein Erlebnis, das mir diesen Tag für alle Zeiten unvergesslich macht. Monatelang hatte ich unter dem Druck jugendlicher Gemütsverstimmungen gelitten. Das Leben schien mir nicht der Mühe wert. Überall sah ich mich nur von Leid und Beschwerlichkeit umgeben. Ich hatte mich nicht danach gedrängt, in diese Welt zu kommen, und doch war ich hier. Ich war gerade fünfzehn geworden. Niemand liebte mich und ich wusste, dass ich eine hässliche Gemütsart hatte und war daher nicht überrascht, dass das Leben mir Schwierigkeiten bereitete. Die Zukunft versprach mir nichts, ausser Heirat und dem eintönigen Dasein meiner Kaste und Clique. Ich hasste meine Mitmenschen (ausser zwei oder drei Leuten) und war eifersüchtig auf meine Schwester, ihre Klugheit und ihr gutes Aussehen. Man hatte mich die engstirnigste Art von Christentum gelehrt; wer nicht dasselbe glaubte wie ich, konnte nicht erlöst werden. Die Anglikanische Kirche zerfiel in die Hochkirchenpartei, die beinahe anglo-katholisch war, und die niedere (Low Church) Kirchenpartei, die an eine

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