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Die unvollendete Autobiographie, Seite 22 ff. (engl.) |
So machte ich mich bewusst auf die uralte Suche nach der Welt der Bedeutung, die entdeckt werden muss, wenn man die Rätsel des Lebens und die Leiden der Menschheit ergründen will. Fortschritt wurzelt im mystischen Bewusstsein. Ein guter Okkultist muss vorerst einmal ein praktizierender Mystiker sein (vielleicht sollte ich sagen praktischer Mystiker - möglicherweise trifft beides zu), und die Entwicklung der Herzensempfindung und die Kraft, zu fühlen (und zwar mit unfehlbarer Sicherheit zu fühlen), sollte natürlicher und normalerweise der mentalen Annäherungsmethode und der Kraft zu wissen vorausgehen. Sicherlich muss geistiger Instinkt geistigem Wissen vorangehen, genau so, wie die Instinkte des Tieres, des Kindes und des unentwickelten Menschen in jeden Fall der intellektuellen Wahrnehmung vorangehen. Sicherlich muss Vision vorhanden sein, bevor man die Methode beherrscht, diese Vision zur Wirklichkeit zu machen. Sicherlich kommt das Fragenstellen und blinde Tasten nach Gott notwendigerweise vor dem bewussten Betreten des «Pfades», der zur Enthüllung führt. Vielleicht wird die Zeit kommen, wo man unseren heranwachsenden Jungen und Mädchen einige Aufmerksamkeit im Sinn der Auswertung ihrer normalen, mystischen Neigungen widmen wird. Diese Neigungen werden so oft als jugendliche Phantasien abgefertigt, aus denen man am Ende herauswächst. Mir erscheinen sie als Gelegenheiten, die Eltern und Lehrer ausnützen könnten. Diese Lebensperiode könnte zu höchst konstruktiver Beratung verwendet werden. Die Orientierung des Lebens könnte festgestellt und viel späteres Elend vermieden werden, wenn die verantwortlichen Erzieher für die Ursache und den Zweck der Fragen, des unartikulierten Sehnens und des visionären Strebens Verständnis besässen. Man könnte den jungen Leuten erklären, dass da etwas in ihnen vorgeht, was durchaus normal und recht, die Auswirkung von Erfahrungen vergangener Leben ist und darauf hinweist, dass die mentale Seite ihrer Natur mehr betont werden sollte. Vor allem liesse sich darauf hinweisen, dass die Seele, der innere geistige Mensch, seine Gegenwart fühlbar zu machen sucht. Die Allgemeingültigkeit dieses Vorgangs sollte hervorgehoben und damit die Einsamkeit, das irrige Gefühl der Isolierung und der Besonderheit beseitigt werden, welche die beunruhigenden Begleiterscheinungen dieser Erfahrung ausmachen. Ich glaube, dass diese Art der konstruktiven Nutzbarmachung jugendlicher Triebe und Träume später einmal mehr Beachtung finden wird. Ich betrachte die albernen Jugendtragödien, die ich durchzumachen hatte, lediglich als den Anfang der mystischen Phase meines Lebens, die - mit der Zeit - der okkulten Phase mit ihrem erhöhten Selbstvertrauen, ihrer tieferen Einsicht und ihren unwandelbaren Überzeugungen Platz machte. Nachdem wir Kanada verlassen hatten, wurde meine Mutter ernstlich krank und wir gingen nach Davos, wo wir einige Monate blieben, bis mein Vater sie nach England zurückbrachte, wo sie starb. Nach ihrem Tod zogen wir alle zu unseren Grosseltern nach Moor Park in Surrey. Vaters Gesundheit hatte sich inzwischen ernstlich verschlechtert. Der Aufenthalt in England bekam ihm nicht, und kurz vor seinem Tod zogen wir Kinder mit ihm nach Pau in den Pyrenäen. Ich war damals acht und meine Schwester sechs Jahre alt. Die Krankheit war aber schon zu weit fortgeschritten, und wir kehrten nach Moor Park zurück und verblieben dort, während mein Vater mit einem Krankenwärter eine lange Seereise nach Australien antrat. Wir sahen ihn nie wieder, denn er starb während der Überfahrt von Australien nach Tasmanien. Ich erinnere mich noch lebhaft an den Tag, als meine Grosseltern die Nachricht von seinem Tod erhielten und als später der Wärter mit Vaters Gepäck und persönlichen Wertsachen auftauchte. Es ist merkwürdig, wie kleine Einzelheiten, z.B. wie dieser Mann meines Vaters Uhr meiner Grossmutter übergab, im Gedächtnis haften bleiben, während andere Dinge von grösserer Bedeutung der Erinnerung zu entschwinden scheinen. Man fragt sich, was eigentlich das Gedächtnis in dieser Weise bestimmt, warum gewisse Dinge haften bleiben und andere nicht. Moor Park war eines jener grossen, englischen Landhäuser, die eigentlich recht unwohnlich sein müssten und es trotzdem irgendwie fertig bringen, gemütlich zu sein. Es war nicht besonders alt, da es zur Zeit der Königin Anne von Sir William Temple erbaut worden war. Er war es, der die ersten Tulpen in England einführte. Sein in eine Silberkapsel eingeschlossenes Herz lag unter der Sonnenuhr im Ziergarten vor den Fenstern der Bibliothek begraben. Moor Park war in seiner Art eine Sehenswürdigkeit, und an bestimmten Sonntagen wurde das Publikum zur Besichtigung zugelassen. Mit der Bibliothek verknüpfen mich zwei Erinnerungen. Ich sehe mich noch an einem ihrer Fenster stehen, während ich mir das Bild vorzustellen suchte, wie es Sir William Temple gesehen haben muss - mit seinen Ziergärten und Terrassen, bevölkert von angesehenen Lords und Ladies in den Trachten jener Zeit. Und dann gedenke ich einer anderen, diesmal nicht eingebildeten Szene: ich sah meines Grossvaters Sarg, in dem er aufgebahrt war, und darauf einen grossen Kranz, den die Königin Viktoria gesandt hatte. Meiner Schwester und mein eigenes Leben in Moor Park (wo wir blieben, bis ich beinahe dreizehn war) war streng geregelt. Wir waren an Reisen und Veränderungen gewöhnt, und ich bin sicher, dass wir die Disziplin dringend nötig hatten. Verschiedene Erzieherinnen sorgten nacheinander dafür. Die einzige, an die ich mich aus jenen frühen Kindertagen erinnere, hatte den merkwürdigen Namen Miss Millichap. Sie hatte entzückendes Haar, ein nicht sehr eindrucksvolles Gesicht, ihre Kleider waren in sehr prüder Art vom Saum bis zur Kehle fest zugeknöpft, und sie war stets in den jeweiligen Hilfsprediger verliebt; eine hoffnungslose Liebe, denn sie heiratete keinen von ihnen. Wir hatten oben im Haus ein riesengrosses Schulzimmer, wo eine Erzieherin, eine Kinderschwester und eine Zofe für uns beide sorgten. Die strenge Disziplin wurde beibehalten, bis ich erwachsen war, und wenn ich daran zurückdenke, werde ich mir darüber klar, wie furchtbar hart sie war. Jede halbe Stunde unseres Lebens war im voraus geplant, und noch heute sehe ich den Stundenplan an der Wand unseres Schulzimmers, der die nächste Pflicht anzeigte. Ich erinnere mich gut daran, wie ich zu ihm hinüberging und mich fragte: «Was kommt jetzt?» Um sechs Uhr aufstehen, bei Regen oder Sonnenschein, ob Sommer oder Winter; eine Stunde lang Tonleiter üben oder Schularbeiten machen, wenn meine Schwester am Klavier dran war; Frühstück punkt acht im Schulzimmer, und dann um neun Uhr Familienandacht unten im Esszimmer. Wir mussten den Tag in rechter Weise mit einem Gedenken Gottes beginnen, und trotz des strengen Familienglaubens finde ich, dass es eine gute Sitte war. Da sass der Herr des Hauses mit der Familienbibel vor sich, und um ihn herum die Familienmitglieder und die Hausgäste; dann kam die Dienerschaft hereinmarschiert, je nach Pflicht und Rang - die Haushälterin, die Köchin, die Zofen, das erste Hausmädchen und die übrigen Hausmädchen, das Küchenmädchen, das Aufwaschmädchen, die Diener und schliesslich der Butler, der die Tür zumachte. Da gab es dann echte Andacht und mancherlei Auflehnung, wahres Höherstreben und intensive Langeweile, denn so ist es nun einmal im Leben. Die Gesamtwirkung war jedoch eine gute, und etwas mehr Gottesgedenken würde uns sicher auch heutzutage ganz guttun. Dann von 9 Uhr 30 bis Mittag arbeiteten wir mit unserer Gouvernante an unserem Schulpensum, und darauf folgte ein Spaziergang. Unser Mittagbrot durften wir im Speisezimmer essen, aber dabei durften wir kein Wort sprechen, und unser gutes Benehmen und Schweigen wurde von unserer Gouvernante mit scharfem Auge überwacht. Bis heute kann ich mich erinnern, wie ich (nach echter Kinderart) traumverloren und mit aufgestützten Ellbogen zum Fenster hinausstarrte, um dann plötzlich wieder im Alltag aufzuwachen, als ich hörte, wie meine Grossmutter dem am Tisch servierenden Diener sagte: «James, bitte bringen sie zwei Untertassen und tun sie Miss Alice's Ellbogen hinein». Das tat James auch gehorsam und während der übrigen Mahlzeit mussten meine Ellbogen dort bleiben. Die Beschämung habe ich nie vergessen und heute noch, nach mehr als fünfzig Jahren, bin ich mir bewusst, gegen eine Regel zu verstossen, wenn ich - meiner Gewohnheit nach - die Ellbogen auf den Tisch stütze. Nach dem Mittagessen mussten wir eine Stunde lang auf einem schrägen Brett liegen, während unsere Gouvernante uns ein erbauliches oder lehrreiches Buch vorlas; dann folgte wieder ein Spaziergang und darauf Schularbeiten bis fünf Uhr. Um diese Zeit mussten wir in unser Schlafzimmer gehen, wo die Kinderschwester oder die Zofe uns zum Heruntergehen ins Gesellschaftszimmer fertig machte. Weisse Röcke, bunte Schärpen, Seidenstrümpfe und gut gebürstete Haare waren die Vorschrift, und dann mussten wir nach unten, wo die Hausgesellschaft nach dem Tee versammelt war. Dort standen wir in der Tür, machten unseren Knicks und unterwarfen uns der Tortur, angesprochen und besichtigt zu werden, bis die Gouvernante uns wieder abholen kam. Unser eigenes Abendbrot war um 18.30 im Schulzimmer, und nachher mussten wir bis zum Zubettgehen um 20:00 wieder Schularbeiten machen. Nie gab es in jener Viktorianischen Zeit irgend etwas für uns zu tun, was wir als Einzelmenschen vielleicht gern hätten tun mögen. Es war ein Leben der Disziplin, des Rhythmus und Gehorsams, mit gelegentlichen Ausbrüchen von Auflehnung und darauffolgender Bestrafung. Als ich das Leben meiner eigenen drei Mädchen in Amerika beobachtete, die in den Vereinigten Staaten geboren wurden und dort lebten, bis sie etwa zwanzig Jahre alt waren, und ihren Weg durch das öffentliche Schulsystem des Landes verfolgte, da habe ich mich oft gefragt, wie ihnen wohl das streng geregelte Leben zugesagt haben würde, das meine Schwester und ich durchmachen mussten. Mit mehr oder weniger Erfolg habe ich versucht, meinen Töchtern das Dasein angenehm zu machen, und wenn sie sich mal über dessen Härte beklagten - wie das alle jungen Menschen normaler- und natürlicherweise tun - dann musste ich immer wieder daran denken, wie herrlich sie sich doch amüsieren durften im Vergleich zu den Mädchen meiner Generation und sozialen Herkunft. Bis zum 20. Lebensjahr war mein Leben gänzlich der Regelung durch meine Erzieher oder den sozialen Bräuchen meiner Zeit unterworfen. Ich durfte dies und jenes nicht tun; diese oder jene Haltung war unkorrekt; was würden die Leute darüber denken oder sagen? Du kommst ins Gerede, wenn du dies oder jenes tust; das ist nicht der Typ eines Menschen, mit dem du bekannt werden darfst; sprich nicht mit jenem Mann oder jener Frau; feine Leute sprechen oder denken nicht so; du darfst nicht in Gegenwart anderer gähnen oder niesen; du darfst erst sprechen, wenn du angesprochen wirst usw. usw.. Das Leben war eingeengt durch das, was man unmöglich tun durfte, und es verlief nach peinlichst genauen Regeln, die jede nur mögliche Situation vorsahen. Zwei andere Dinge sind mir besonders klar in Erinnerung geblieben. So bald als möglich wurde uns beigebracht, für die Armen und Kranken zu sorgen und uns darüber klar zu sein, dass günstige Lebensumstände eine Verpflichtung bedeuten. Mehrere Male in der Woche, wenn es Zeit zum Ausgehen war, mussten wir uns von der Haushälterin Gelee oder Suppe für einen Kranken im Gutsbereich holen, oder Kinderkleidung für ein neugeborenes Baby in einer der Angestelltenwohnungen, oder auch Bücher für jemand, der durch Krankheit ans Haus gebunden war. Das mag man als Beispiel für die väterliche Bevormundung und des Feudalsystems im damaligen Grossbritannien ansehen, aber es war schon etwas Gutes daran. Vielleicht ist es gut, dass all das vorbei ist - und persönlich bin ich froh darüber -, aber es würde nichts schaden, wenn die Reichen in diesem Land etwas von dem anerzogenen Verantwortungs- und Pflichtgefühl gegenüber anderen bewahrt hätten. Uns wurde eingeschärft, dass Geld und soziale Stellung gewisse Verpflichtungen mit sich bringen, und dass man diesen Verpflichtungen nachkommen muss. Was mir zweitens lebhaft in Erinnerung blieb, ist die Schönheit der Landschaft, die blumenreichen Feldwege und die vielen Wälder, die meine Schwester und ich in unserem kleinen Ponywagen durchfuhren. Es war, was man zu jener Zeit ein «Gouvernantengefährt» nannte, das, glaube ich, besonders für kleine Kinder gedacht war. An Sommertagen pflegten meine Schwester und ich damit auszufahren, begleitet von einem kleinen Pagen, der in Uniform mit Knöpfen und einer Kokarde am Hut auf dem Trittbrett stand. Oft frage ich mich, ob wohl meine Schwester auch noch an jene Zeiten denkt. Nach meines Grossvaters Tod wurde Moor Park verkauft, und wir zogen für kurze Zeit zu unserer Grossmutter nach London. Vor allem erinnere ich mich daran, wie wir damals mit ihr in einer Viktoria (wie diese Art Wagen genannt wurde) zweispännig mit einem Kutscher und einem livrierten Diener auf dem Bock im Park herumfuhren. Das war sehr langweilig und eintönig. Dann wurden wir anderweitig untergebracht, aber bis zu Grossmutters Tod war ich oft bei ihr zu Besuch. Sie war damals schon eine sehr alte Dame, die aber immer noch Anzeichen ihrer Schönheit aufwies; sie muss einmal sehr gut ausgesehen haben, wie ein Bild beweist, das zu ihrer Hochzeit anfangs des 19. Jahrhunderts gemalt wurde. Als ich mit meiner ältesten Tochter, die damals noch ein ganz kleines Kind war, zu Besuch bei meinen Verwandten gewesen war und nach Amerika zurückfuhr, kam ich müde, krank, elend und voller Heimweh wieder in New York an. Ich ging ins Gotham Hotel in der fünften Avenue zum Mittagessen. Während ich dort traurig und niedergeschlagen im Vestibül sass, griff ich eine illustrierte Zeitung auf. Als ich sie zum Zeitvertreib öffnete, entdeckte ich zu meiner Überraschung die Bilder meiner Grossmutter, meines Grossvaters und meines Urgrossvaters, die mich da plötzlich anzublicken schienen. Ich war so überrascht, dass ich weinte, aber danach fühlte ich mich nicht mehr so weit entfernt von ihnen allen. |
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Last updated Saturday, February 14, 1998 © 1998 Netnews Association. All rights reserved. |