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Der Yoga-Pfad (die Yoga Sutras von Patanjali), Seite 356 ff. (engl.)

Der Zustand eines solchen Menschen wurde von Charles Johnston in seinem Kommentar zu diesem Lehrspruch sehr gut beschrieben; die Schönheit seiner Gedanken ist aus folgenden Worten zu ersehen: «Der geistige [357] Mensch ist im Netzwerk seiner Gefühle, in Begierde, Furcht, Ehrgeiz, Leidenschaften verstrickt; und er ist durch die mentalen Formen des Abgesondertseins und des Materialismus behindert. Wenn dieses Gewebe zerrissen ist und wenn alle diese Hindernisse überwunden sind, dann steht der geistige Mensch in seiner eigenen Welt, stark, mächtig und weise. Ausgestattet mit geistiger Einsicht und Energie bedient er sich göttlicher Kräfte und arbeitet zusammen mit göttlichen Gefährten. Zu einem solchen Menschen wird gesagt: «Du bist nun ein Jünger, fähig, auf eigenen Füssen zu stehen, fähig zu hören, zu sehen und zu sprechen. Du hast das Verlangen überwunden und Selbsterkenntnis erlangt; du hast die Vollendung deiner Seele gesehen, du hast sie als solche erkannt und du hast die Stimme der Stille gehört».

Die wunderbare Synthese der Lehre ist nirgendwo klarer zu erkennen als in diesem Lehrspruch, denn der hier erreichte Punkt ist von einer höheren Rangordnung als der in Buch II, Lehrspruch 45, genannte; er ist eine Zwischenstufe zwischen jenem und dem in Buch IV, Lehrspruch 33 und 34 erwähnten Zustand.

In Buch I, Lehrspruch 4, finden wir den wahren Menschen verwickelt in die Maschen der psychischen Natur, das Licht in ihm ist verhüllt und unsichtbar. Dadurch, dass er zu unterscheiden lernt zwischen dem wahren Selbst und dem niederen persönlichen Selbst, befreit er sich; das Licht in ihm wird sichtbar und er wird frei. Wenn er die Befreiung erlangt, die seelischen Kräfte entfaltet und gemeistert hat, öffnet sich vor ihm ein noch umfassenderes und grösseres Erleben und Erkennen. Er fängt an, seinen Bewusstseinsbereich vom planetarischen bis zum solaren auszudehnen, und Gruppenbewusstsein kann zu göttlichem Bewusstsein entfaltet werden. Der [358] erste Schritt dazu ist in diesem Lehrspruch angegeben, mehr erfahren wir darüber im letzten Buch. Die Regeln für diese Bewusstseinserweiterung werden nicht angegeben, da sie die Entwicklung eines Meisters und die Entfaltung des Christus zu jenem höheren Seins-Zustand betreffen, der für ihn möglich ist. Aber das vierte Buch behandelt kurz die vorbereitenden Stadien und deutet weitere Möglichkeiten an. Hier wird das Grunderfordernis angedeutet, das Vermögen, den Unterschied zwischen der Seele (dem Christus im Innern) und dem Geist- oder Vater-Aspekt zu erkennen. Einsichtsvolles Handeln, das auf dem Fundament der Liebe beruht, ist überzeugend bewiesen worden; nun kann der Geist- oder Willens-Aspekt ohne Gefahr entwickelt und die Macht in die Hände Christi übergeben werden.

Drei Ausdrücke können auf diesen Entfaltungsprozess Licht werfen:

Die erste grosse Bewusstheit, die der Aspirant erreichen muss, ist die Allgegenwart; er muss seine Verbundenheit mit allem, und das Einssein seiner Seele mit allen anderen Seelen erkennen; er muss Gott in seinem Herzen und in jeder Form des Lebens finden. Als Eingeweihter kommt er dann zur Allwissenheit, die Hallen der Belehrung und der Weisheit übergeben ihm ihre Geheimnisse. Er wird ein Christus, ein Wissender um alle Dinge, der erkannt hat, was im Herzen des Vaters und in den Herzen aller Menschen ist. Schliesslich kann er Allmacht erreichen; dann werden dem Menschensohn die Schlüssel des Himmels übergeben, und er wird alle Macht besitzen.

50. Durch eine [359] gleichmütige Geisteshaltung gegenüber diesen Errungenschaften und gegenüber allen seelischen Kräften und Fähigkeiten erreicht der Mensch, der frei ist von der Saat der Unfreiheit, den Zustand des losgelösten Eins-Seins.

Das losgelöste Eins-Sein, das hier gemeint ist, ist die völlige Loslösung von allen Aspekten der Form, und das Einswerden mit dem geistigen Sein. Es ist die Abwendung vom materiellen Bewusstsein und ein Leben im geistigen Bewusstsein. Es ist Harmonie mit dem Geist, und Disharmonie mit der Materie. Es ist die Identifizierung mit dem Vater im Himmel und das rechte Verstehen des Ausspruchs des Meisters aller Meister: «Ich und der Vater sind eins».

Nachdem der wahre Yogi ein richtiges Gefühl für Werte gewonnen und erkannt hat, dass die entwickelten Kräfte und die errungenen Erkenntnisse die «Saat der Unfreiheit» in sich bergen, befasst er sich nicht mehr mit ihnen. Sobald er es will oder für eine bestimmte Dienstleistung braucht, nimmt er das, was dafür notwendig ist, wahr und wendet die okkulten Kräfte an; aber er selbst bleibt losgelöst und dadurch frei von allen karmischen Bindungen.

51. Die Verlockungen aller Daseinsformen, auch der himmlischen, müssen abgewiesen werden, denn dadurch können wieder Bindungen entstehen, die vom Übel sind.

Die Übersetzung von Rama Prasad ist aufschlussreich und soll deshalb hier angeführt werden. Sie lautet wie folgt:

«Wenn herrschende Gottheiten ihre Anziehungskraft ausüben, sollte [360] man losgelöst bleiben und nicht befriedigt darüber sein, denn dadurch könnte es wieder zu einem Kontakt mit dem Unerwünschten kommen».

Dvidedis Deutung gibt noch einen anderen Blickpunkt:

«Es darf weder Freude noch Stolz aufkommen, wenn die Kräfte der verschiedenen Ebenen uns ihre Aufmerksamkeit zuwenden, denn es besteht die Möglichkeit, dass wir in das alte Übel zurückfallen».

Der Yogi oder Jünger hat sein Ziel erreicht. Er hat sich durch Leidenschaftslosigkeit und Unterscheidungskraft aus den Fesseln der Form befreit. Aber er muss auf der Hut sein, denn «wer meint, dass er stehe, mag wohl zusehen, dass er nicht falle». Das Leben der Formen lockt immer, und die Versuchungen der grossen Illusion sind ständig da. Die befreite Seele muss ihre Augen wegwenden von den Lockmitteln der «herrschenden Gottheiten» (den Kräften, die in den drei Welten die Gesamtsumme des Lebens darstellen) und sie auf jene mehr geistigen Aspekte richten, die das Leben Gottes sind.

Sogar das Reich der Seele selbst und die sogenannte «Stimme der Götter» tragen latent die Keime der Bindung in sich. Darum lässt der Gottessohn, der Christus in Manifestation, alles hinter sich, was er gewonnen hat; er denkt nicht an die Vollkommenheiten, die er erreicht hat, und an die Kräfte, die er entfaltet hat, sondern drängt vorwärts, einem höheren Ziel entgegen. An jedem Abschnitt des Weges hört er von neuem die Aufforderung: «Vergiss, was hinter dir liegt, und strebe weiter nach dem, was vor dir liegt». (Philipper III); und jede neue Einweihung ist nur der Beginn eines neuen Abschnitts des Bemühens.

Erklärer [361] dieses Lehrspruchs weisen darauf hin, dass es vier Klassen von Jüngern gibt. Es sind:

1. Diejenigen, deren Licht gerade zu scheinen beginnt; sie werden «Observanten der Regeln» genannt. Es sind jene Probejünger oder Aspiranten, die soeben den Pfad betreten.

2. Diejenigen, deren Intuition sich entfaltet, und bei denen sich eine entsprechende Entwicklung der psychischen Kräfte zeigt. Dieses Stadium birgt grosse Gefahren in sich, da die Macht, die solchen Jüngern durch den Besitz der psychischen Kräfte gegeben ist, sie verblenden kann. Sie könnten sich zu der Annahme verleiten lassen, dass psychische Macht ein Zeichen geistigen Wachstums ist. Das ist nicht der Fall.

3. Jene Jünger, die alle Sinnesreize überwunden haben und die sich durch den Formaspekt in den drei Welten nicht mehr täuschen lassen. Sie haben die Sinne gemeistert und über die Formnatur gesiegt.

4. Diejenigen, die über all das Gesagte hinausgelangt sind und fest im wahren geistigen Bewusstsein stehen. Das sind die Erleuchteten die durch die sieben Stadien der Erleuchtung hindurchgegangen sind. Siehe Buch II, Lehrspruch 27.

Wenn der Leser hier den Lehrspruch 26 des dritten Buches und die Erläuterung dazu studiert, wird er eine Vorstellung bekommen von der Wesensart dieser Form-Welten und ihren herrschenden Gottheiten, deren Stimmen den Aspiranten vom rechten Weg hinwegzulocken trachten in das Reich der Illusion. Der Leser sollte auch die vier Klassen der dort angeführten Geistwesen mit diesen vier [362] Arten von Jüngern vergleichen. Alles, was es in den drei Welten gibt, ist eine Widerspiegelung dessen, was in den himmlischen Bereichen zu finden ist; und wer den berühmten Aphorismus des Hermes «Wie oben, so unten» richtig versteht, kann dadurch viel gewinnen. Diese Widerspiegelung ist das, was das Übel ausmacht; dieser umgekehrte Aspekt der Wirklichkeit bildet die grosse Illusion, und damit haben die Gottessöhne nichts zu tun. Es ist für sie nur dann ein Übel, wenn sie sich damit befassen - sonst nicht. Die Lebensformen in diesen Welten, und die Leben, die diese Formen beseelen, sind an sich gut und recht, und sie verfolgen ihren eigenen Weg der Entwicklung; aber ihr nächstliegendes Ziel und ihr Bewusstseinszustand stimmen nicht überein mit Ziel und Bewusstseinszustand des sich entwickelnden Jüngers, und darum darf er sich nicht damit befassen.

52. Intuitives Erkennen wird entwickelt durch Unterscheidungskraft und konzentriertes Meditieren über die winzigen Zeitspannen eines Augenblicks und deren kontinuierliche Aufeinanderfolge.

Es ist gesagt worden, dass ein vollkommenes Verstehen des Gesetzes der Zyklen den Menschen zu einem hohen Grad der Einweihung führen kann. Dieses Gesetz der Periodizität liegt allen Prozessen in der Natur zugrunde, und das Studium dieses Gesetzes würde den Menschen aus der Welt der objektiven Wirkungen in die Welt der subjektiven Ursachen führen. Es ist ferner gesagt worden, dass die Zeit selbst nur eine Aufeinanderfolge von Bewusstseinszuständen ist, und das gilt für ein Atom, einen Menschen und für Gott. Auf dieser Wahrheit sind die grossen Systeme der Mental-Wissenschaft und der Christlichen Wissenschaft im Abendland, und viele orientalische Philosophien aufgebaut. Dieser Lehrspruch [363] gibt uns den Schlüssel zur Beziehung zwischen Materie und Denkkraft, oder zwischen Substanz und der ihr innewohnenden Seele; und das kann einem klar werden, wenn man über die folgenden Worte eines Hindu-Kommentators nachdenkt:

«So wie das Atom eine Substanz ist, in der winzige Kleinheit ihre Grenze erreicht, so ist auch ein Augenblick eine winzige, begrenzte Zeitspanne. Oder: Ein Augenblick ist soviel Zeit, wie ein Atom braucht, um seinen Standort im Raum zu verlassen und den nächsten Punkt zu erreichen. Die Aufeinanderfolge von Augenblicken ist darum das Nicht-Aufhören des Zeitstroms».

Wenn wir begreifen können, dass ein Atom und ein Moment ein und dasselbe sind, und dass dahinter der Erkennende oder Wahrnehmende von beiden steht, dann haben wir den Schlüssel zu allen Bewusstseinszuständen und zum Wesen der Energie. Dann würden wir auch die Wirklichkeit des Ewigen Jetzt begreifen und die Bedeutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft richtig einschätzen. Das, so wird uns hier gesagt, können wir erreichen durch konzentriertes Meditieren über die Zeit und ihre Einheiten.

Es könnte hier noch erwähnt werden, dass die verschiedenen Arten der Konzentration, die in diesem dritten Buch behandelt werden, sich nicht für alle Arten von Aspiranten eignen. Es gibt unter den Menschen sieben Haupttypen mit unterschiedlichen Merkmalen und Naturen, die auf Grund bestimmter Eigenschaften die Anlage oder Neigung haben, den «Rückweg zu Gott» in der ihnen eigenen Weise zu gehen. Gewisse Typen, die eine Neigung zur Mathematik und göttlichen Geometrie (mit Zeit- und Raumbegriffen) haben, und die ihre intuitive Erkenntnis entwickeln möchten, sollten nach der in diesem Lehrspruch angegebenen Methode vorgehen; [364] andere werden sie zu schwierig finden und werden sich klugerweise anderen Arten des konzentrierten Meditierens zuwenden.

53. Aus diesem intuitiven Wissen erwächst die Fähigkeit, alle Wesen zu unterscheiden und ihre Gattung, ihre Qualitäten und ihren Platz im Raum zu erkennen.

Der Sinn dieses Lehrspruchs ist in der folgenden freien Umschreibung leichter zu verstehen:

«Durch die Entfaltung der Intuition entsteht ein exaktes Wissen um den Ursprung des manifestierten Lebens, um dessen Merkmale oder Qualitäten und dessen

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