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Von Bethlehem nach Golgatha, Seite 208 ff. (engl.) |
hernach folgenden Qual im Garten von Gethsemane ist uns so vertraut wie unsere
eigenen Namen und doch viel weniger haften geblieben. Das ist die Tragödie
Christi. Er tat so viel, und wir haben so wenig davon erkannt. Wir brauchten
zwanzig Jahrhunderte, um zu beginnen, ihn, seine Mission und Laufbahn zu
verstehen. Die Kreuzigung selbst war nur eine vorauszusehende und zu erwartende
Vollendung dieser Laufbahn. Es war kein anderes Ende möglich. Es war von Anfang
an vorbestimmt, und es begann wirklich von der Zeit an, als er nach der
Tauf-Einweihung aufbrach, der Menschheit zu dienen und die frohe Botschaft vom
Reich Gottes zu lehren und zu predigen. Das war sein Thema, und wir haben das
vergessen und haben die Persönlichkeit von Jesus Christus gepredigt ein Thema,
das er selbst ignorierte und das ihm von geringer Bedeutung schien im Hinblick
auf die darin eingeschlossenen grösseren Werte. Dies ist wiederum die Tragödie
Christi. Er hat seinen Wertmassstab, und die Welt hat einen anderen.
Wir haben aus der Kreuzigung eine Tragödie gemacht, während doch die wirkliche Tragödie die war, dass wir darin versagten, ihre wahre Bedeutung zu erkennen. Die Qual im Garten von Gethsemane beruhte auf der Tatsache, dass er nicht verstanden wurde. Viele Menschen sind eines gewaltsamen Todes gestorben; hierin unterschied sich Christus in keiner Weise von Tausenden anderer weitsehender Menschen und Reformer durch die Zeitalter hindurch. Viele Menschen sind durch die Gethsemane-Erfahrung hindurchgegangen und haben mit der gleichen Inbrunst wie Christus gebetet, dass Gottes Wille geschehen möge. Viele Menschen sind in ihrem Wirken und im erschauten Dienst von jenen verlassen worden, von denen sie Verständnis und Mitarbeit hätten erwarten können. In keinem dieser Punkte war Christus wirklich einzig dastehend. Aber sein Leiden beruhte auf seiner einzigartigen Vision. Der Mangel an Verständnis von Seiten der Menschen und die verzerrten Auslegungen, die künftige Theologen seiner Botschaft geben würden, sind gewiss ein Teil seiner Vorschau gewesen, [209] ebenso das Wissen darum, dass durch den Nachdruck, den man auf ihn als den Erlöser der Welt legte, für Jahrhunderte die Verwirklichung des Reichs Gottes auf Erden verzögert würde, das zu gründen seine Mission war. Christus kam, damit die Menschheit «das Leben ... in all seiner Fülle» haben sollte (Joh. X/10). Wir haben seine Worte so ausgelegt, dass nur die «Erlösten» damit betraut werden, die notwendigen Stufen zu diesem Leben erreichen zu können. Aber das Leben in Fülle soll sicher nicht nachher in einem fernen Himmel gelebt werden, wo die Gläubigen sich ausschliesslicher Glückseligkeit erfreuen, während der Rest von Gottes Kindern draussen gelassen wird. Das Kreuz war bestimmt, die Grenzlinie anzuzeigen zwischen dem Reich der Menschen und dem Reich Gottes, zwischen einem grossen Naturreich, das die Reife erlangt hatte, und einem anderen Naturreiche, das nun in seinen Tätigkeitszyklus eintreten könnte. Das Menschenreich hatte sich entfaltet bis zu dem Punkt, wo es den Christus hervorgebracht hatte und jene anderen Gotteskinder, deren Leben beständig Zeugnis gab von der göttlichen Natur. Christus übernahm das alte Symbol und die Last des Kreuzes, indem er sich neben all die vorausgegangenen gekreuzigten Erlöser stellte, in sich das Unmittelbare und das Kosmische, die Vergangenheit und die Zukunft verkörpernd. Er errichtete auf dem Hügel ausserhalb von Jerusalem (dessen Name «Vision des Friedens» bedeutet) das Kreuz, um so die Aufmerksamkeit auf das Reich zu lenken, für dessen Schaffung er starb. Das Werk ward vollendet. Und in diesem fremden kleinen Land, das «Heilige Land» genannt, einem schmalen Gebietsstreifen zwischen den beiden Hemisphären, zwischen Ost und West, zwischen Morgenland und Abendland, bestieg Christus das Kreuz und legte die Grenze fest zwischen dem Reich Gottes und den Reichen der Erde, zwischen der Welt der Menschen und der Welt des Geistes. Dadurch brachte er die alten Mysterien, die das Kommen jenes Reichs prophezeit hatten, zu einem Höhepunkt und setzte die Mysterien vom Reich Gottes ein. Die Anstrengung, den Willen Gottes bis zur Vollendung durchzuführen, beendete das vollkommenste Leben, das je auf Erden gelebt wurde. Der Versuch, das für alle Zeit vorherbestimmte Reich zu gründen, und der Widerstand, den dieser Versuch hervorrief [210] , brachte Christus an die Stätte der Kreuzigung. Die Härte der Menschenherzen, die Schwäche ihrer Liebe und ihr Unvermögen, die Vision zu sehen, brachen das Herz des Welterlöserseines Erlösers, denn er öffnete die Tür in das Reich. Es ist Zeit, dass die Kirche zu ihrer wahren Mission erwacht, die darin besteht, das Reich Gottes auf Erden sichtbar zu machen, heute, hier und jetzt. Die Zeit ist vorüber, in der wir ein zukünftiges und kommendes Reich Gottes betonen. Die Menschen sind nicht länger interessiert an einem möglichen himmlischen Zustand oder einer wahrscheinlichen Hölle. Sie müssen dringend lernen, dass das Reich Gottes hier ist und sie selbst es auf Erden zum Ausdruck bringen müssen. Es besteht aus jenen, die den Willen Gottes bedingungslos erfüllen, wie Christus es tat, und die einander lieben können, wie Christus uns liebte. Der Weg in das Reich ist der Weg, den Christus ging. Er schliesst das Opfer des persönlichen Selbstes für das Gute in der Welt ein und den Dienst an der Menschheit anstatt des Dienstes an unseren eigenen Wünschen. Im Lauf der Verkündigung dieser neuen Wahrheiten über Liebe und Dienen verlor Christus sein Leben. Kanonikus Streeter sagt, dass «die Bedeutung und der Wert von Christi Tod aus ihrem inneren Wesen stammen. Sie sind der äussere Ausdruck frei gewählter Selbsthingabe ohne Murren, ohne Zurückhaltung, im höchsten Dienst an Gott und den Menschen. Das mit solcher Selbstopferung verbundene Leiden ist innerlich schöpferisch». (Buddha und Christus, engl., von B. H. Streeter, S. 215) Ist es nicht vielleicht eine Tatsache, dass die Kreuzigung Christi mit den grossen Ereignissen, die ihr vorausgingen, dem Abendmahl und der Gethsemane-Erfahrung, eine Tragödie ist, die ihre Grundlage in dem Konflikt zwischen Liebe und Hass hat? Es ist nicht die Absicht dieses Buches, das Weltereignis, welches auf Golgatha stattfand, zu verkleinern. Aber wenn wir heute auf dieses Geschehen zurückblicken, beginnen wir eine gewisse Wahrheit zu ahnen, und zwar, dass wir dieses Opfer und diesen Tod in rein selbstsüchtigen Begriffen gedeutet haben. Wir befassten uns mit unserem individuellen Interesse daran. Wir haben die Wichtigkeit unserer individuellen Erlösung betont und legten dieser eine ungeheuere Bedeutung bei. Aber der Weltplan und was Christus durch [211] die Zeitalter hindurch für die Menschheit zu tun bestimmt war, und die Haltung Gottes den Menschen gegenüber, von den frühesten Zeiten, über die Zeit des Christuslebens in Palästina bis zur Gegenwart, sind von uns dem Glauben oder Unglauben an die Wirkung der Kreuzigung auf Golgatha untergeordnet worden, um unsere eigenen Seelen zu retten. In seinem Gespräch mit dem reuigen Dieb nahm Christus diesen jedoch, auf Grund seiner Erkenntnis des Göttlichen, in das Reich auf. Christus war da noch nicht gestorben, und das Blutopfer war noch nicht vollzogen. Es war beinahe, als wenn Christus die Verdrehung vorausgesehen hätte, mit der die Theologie seinen Tod auslegen würde, und als wenn er bestrebt gewesen wäre, diese richtigzustellen, indem er die Anerkennung des sterbenden Diebes zu einem der herausragenden Ereignisse bei seinem Tod machte. Er bezog sich nicht auf die Sündenvergebung durch sein Blut als Begründung für diese Aufnahme. Das wirkliche Thema war die Entscheidung zwischen Liebe und Hass. Nur Johannes, der geliebte Apostel, der Jesus am engsten verbunden war, verstand ihn wirklich, und in seinen Episteln liegt die Betonung ganz auf Liebe; die gebräuchliche orthodoxe Auslegung ist nirgends zu finden. Gerade in der Stellung zu Liebe und Hass, im Verlangen, als Kinder Gottes zu leben, und in der Neigung, als gewöhnliche menschliche Wesen zu leben, liegt der Unterschied zwischen den Bürgern des Reichs Gottes und einem Mitglied der menschlichen Familie. Es war Liebe, die Christus auszudrücken bestrebt war, aber es sind Hass und Trennung und Krieg, die im Weltkrieg den Höhepunkt erreichten und die offizielle Wiedergabe seiner Lehre durch Zeitalter kennzeichnen. Christus starb, um uns aufmerksam zu machen, dass der Weg in das Reich Gottes der Weg der Liebe und des Dienens ist. Er diente und liebte und wirkte Wunder und sammelte um sich die Armen und Hungernden. Er speiste sie und suchte in jeder möglichen Weise die Aufmerksamkeit auf den Grundbegriff der Liebe zu lenken, als das Hauptmerkmal des Göttlichen, nur, um zu erfahren, dass dieses Leben des liebenden Dienstes ihm Leiden und schliesslich den Tod am Kreuz brachte. Wir haben für die theologische Lehre von der jungfräulichen Geburt gekämpft. Wir haben für die Lehren der Erlösung, der Taufe und der Busse gekämpft. Wir haben für die Tatsache der [212] Unsterblichkeit und für deren Leugnung gekämpft und dafür, was der Mensch tun muss, um sich über den Tod zu erheben. Wir haben die halbe Welt als verloren und nur den gläubigen Christen für erlöst angesehen. Christus hat jedoch die ganze Zeit über gesagt, dass der Weg in das Reich über die Liebe führt, und dass durch die Tatsache der göttlichen Gegenwart und Immanenz jeder in das Reich aufgenommen werden kann. Wir haben nicht erkannt, dass «die stellvertretende Sühne das Harmonisieren der Disharmonie anderer durch die Kraft einer geistigen Gegenwart ist, welche die grosse Verwandlung zustandebringt. Das Übel wird absorbiert und in Gutes verwandelt oder ins Gleichgewicht gebracht». (Einige mystische Abenteuer, engl., von G. R. S. Mead, S. 161) Das ist das Bestreben Christi, und die Tatsache seiner Gegenwart ist das harmonisierende Mittel im Leben. Die Menschen werden nicht durch den Glauben an die Formulierung eines theologischen Dogmas erlöst, sondern durch die Tatsache seiner lebendigen Gegenwart, des lebendigen, unmittelbaren Christus. Dieses Erkennen der Tatsache von Gottes Gegenwart im Menschenherzen liegt der mystischen Vision zugrunde, und das Wissen um unsere Gotteskindschaft verleiht die Kraft, den Spuren des Erlösers von Bethlehem nach Golgatha zu folgen. Das Dasein jener in der Welt, die Christus als ihr Vorbild ansehen, und erkennen, dass sie dasselbe göttliche Leben besitzen, wird letztlich unser menschliches Leben neu gestalten, ebenso, wie die Bestätigung des grundlegenden Gesetzes des Gottesreichs, des Gesetzes der Liebe, schliesslich die Welt erlösen wird. Das Ersetzen des Lebens der Welt, des Fleisches und des Teufels durch das Christusleben wird dem Leben Sinn und Wert verleihen. Das Empfinden eines Fehlens von Liebe bildet das Hauptproblem in der Todespein im Garten. Es war das Vorgefühl des schweren Kampfes mit den irdischen Kräften, das Christus ermächtigte, sich der Gemeinschaft aller seiner Brüder anzuschliessen. Die Menschen hatten ihn enttäuscht, ebenso, wie sie uns enttäuschen. In dem Augenblick, als er Verstehen am meisten brauchte und all die Stärke, die Kameradschaft gibt, verliessen ihn seine Nächsten und Teuersten oder schliefen, ohne seiner seelischen Qual gewahr zu werden. «Der Prometheus-Konflikt ist der sich im menschlichen [213] Denken abspielende Streit zwischen dem Sehnen nach Verständnis und dem vertrauteren unmittelbaren Drang jener lebhaften Neigungen und Wünsche, die bedingt sind durch das Wohlwollen und die Unterstützung von Mitmenschen, Wünsche für das Glück unserer Lieben, für die Linderung von Schmerz und Enttäuschung im Denken derer, die den inneren Traum nicht begreifen können, und für die angenehme Bestätigung weltlicher Ehrungen. Dieser Konflikt ist der Felsen, an dem das religiöse Denken scheitert und mit sich entzweit wird». (Psychologie und prometheischer Wille, engl., von W. H. Sheldon, S. 85, 86) Christus scheiterte nicht an diesem Felsen, doch er hatte Augenblicke höchster Verzweiflung, in denen er nur im Wissen um die Vaterschaft Gottes Trost fand und in der sich daraus ergebenden Bruderschaft der Menschen. «Vater», sagte er. Aus diesem Gefühl der Einheit mit Gott und seinen Mitmenschen heraus setzte er das Abendmahl ein, um jenen Gemeinschaftsdienst zu schaffen, dessen Symbolik in der theologischen Praxis so unselig verlorengegangen ist. Der Grundton jenes Gemeinschaftsdienstes war Kameradschaft. «Es ist nur dies, dass Jesus Gemeinschaft unter uns schafft. Er tut das nicht als Symbol ... insoweit als wir miteinander und mit ihm den gleichen Willen haben, das Reich Gottes über alles zu stellen und für diesen Glauben und diese Hoffnung zu dienen, soweit besteht Gemeinschaft zwischen ihm und uns allen menschlichen Generationen, die in denselben Gedanken lebten und leben». (Das Mysterium des Reichs Gottes, von Albert Schweitzer, S. 56) 4 1. «Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun». (Lukas XXIII/34) 2. «Heute noch sollst du mit mir im Paradiese sein». (Lukas XXIII/43) 3. «Weib, siehe, das ist dein Sohn! ... Siehe, das ist deine Mutter!» (Joh. XIX/26) 4. «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Matth. XXVII/46) 5. «Mich [214] dürstet». (Joh. XIX/28) 6. «Es ist vollbracht». (Joh. XIX/30) 7. «Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist». (Lukas XXIII/46) |
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Last updated Saturday, February 14, 1998 © 1998 Netnews Association. All rights reserved. |