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Von Bethlehem nach Golgatha, Seite 138 ff. (engl.)
Reichweite des Menschen und der beständige Zug der Welt transzendentaler Werte haben ein akutes Problem für die Welt geschaffen. Das Primitive und das Transzendentale, der äussere bewusste Mensch und der innere subjektive, unterbewusste Mensch, das höhere und das niedere Selbst, die Persönlichkeit und die Individualität, die Seele und der Körper wie können sie in Einklang gebracht werden? Der höheren Werte ist sich der Mensch fortwährend bewusst. Vom Menschen, der das Gute tun will, und der Natur, die ihn im Gegensatz dazu veranlasst, Böses zu tun, geben alle Heiligen Zeugnis.

Die ganze menschliche Familie ist heute auf der Klippe der [139] Dualität gespalten. Entweder die Persönlichkeit ist gespalten und daher schwer zu behandeln, oder Gruppen und Nationen sind in gegensätzliche Lager geteilt, und wieder taucht in heftiger, dynamischer Schwierigkeit die Dualität auf.

Es war Integrierung, von der Christus ein so vollendetes Beispiel gab, indem er die Dualitäten des Höheren und Niederen in sich auflöste, «aus zweien einen neuen Menschen» machte (Ephes. II/15), und es war dieser «neue Mensch», der in der Verklärung hervorleuchtete, vor den bestürzten, starr blickenden drei Aposteln. Diese grundlegende Integration oder Vereinigung sollte die Religion hervorzubringen bemüht sein, und diese Koordination zwischen zwei fundamentalen Aspekten der menschlichen Natur, der natürlichen und der göttlichen, sollte die Erziehung bewirken.

Dieses Problem der zwei Selbste, die Christus so eindrucksvoll in sich vereinigte, ist genau das menschliche Problem. Das zweite Selbst, im Gegensatz zum göttlichen Selbst, ist eine Tatsache in der Natur, wie immer wir auch dieser Folgerung auszuweichen versuchen und die Erkenntnis ihrer Existenz verweigern. Der «natürliche Mensch» besteht ebenso, wie der «geistige Mensch», und in der Wechselwirkung der beiden liegt der Brennpunkt des menschlichen Problems. Der Mensch selbst macht dies klar. Indem er vom Menschen spricht, sagt Dr. Bosanquet:

«... seine angeborene Selbst-Überlegenheit, seine unausrottbare Leidenschaft für das Ganze macht es unvermeidlich, dass er aus dem Überfluss heraus, den er nicht unter das Gute einordnen kann, ein zweites und negatives Selbst bildet, ein enterbtes Selbst, feindlich gegen die befehlende Herrschaft des Guten, das «ex hypothese» nur unvollständig ist. Und dieser Missklang ist tatsächlich notwendig für das Gute, denn er stellt ihm sein kennzeichnendes Problem, das Besiegen des Bösen. Das Gute ist notwendig für das Übel, denn jenseits der Rebellion gegen das Gute kann die angemasste Totalität des enterbten Selbstes keine andere Einheit finden». (Wert und Schicksal des Einzelmenschen, engl., von B. Bosanquet, S. 210)

Hier liegt das Problem des Menschen, und hier liegt sein Triumph und der Ausdruck seiner wesentlichen Göttlichkeit. Das höhere Selbst besteht und muss schliesslich und unvermeidlich den Sieg über das niedere Selbst erringen. Eines von den Dingen, die heute geschehen, ist die Entdeckung der Existenz dieses höheren [140] Selbstes, und mannigfaltig sind die Zeugnisse über seine Natur und seine Eigenschaften. Durch eine Betrachtung des Selbstes in jedem Menschen nähern wir uns beständig einem Verstehen des Göttlichen.

Hinter der Manifestation Christi lagen Äonen der Erfahrung. Gott hatte sich im Lauf der Zeiten durch Naturereignisse, durch die Menschheit als Ganzes und durch bestimmte Einzelwesen zum Ausdruck gebracht. Dann kam Christus, und im zeitlichen Fortschreiten vereinigte er in sich, als eine endgültige Erfüllung der Vergangenheit und als eine Garantie für die Zukunft, in einer überragenden Persönlichkeit alles, was erreicht worden und alles, was unmittelbar in der menschlichen Erfahrung war. Er war sowohl eine Persönlichkeit als auch eine göttliche Individualität. Sein Leben mit seinem Inhalt und Zweck hat sein Siegel auf unsere Zivilisation gesetzt, und seine gezeigte Synthese ist die Inspiration für die Gegenwart. Diese vollendete Persönlichkeit, die alles in sich zusammenfasste, was in der menschlichen Evolution vorausgegangen war, und alles ausdrückte, was unmittelbar sein sollte, ist Gottes grosse Gabe an den Menschen.

Christus als die Persönlichkeit, welche die Teilung in der menschlichen Natur heilt, und Christus als die Verbindung der höheren und der niederen Aspekte des Göttlichen ist heute die kostbare Erbschaft der Menschheit. Das ist es, was bei der Verklärung offenbart wurde.

Es ist jedoch nützlich, sich zu erinnern, dass nur auf einer bestimmten Stufe in der menschlichen Entwicklung der Ausdruck des innewohnenden Christuslebens und -bewusstseins möglich wird. Die Tatsache der Evolution mit ihren notwendigen Unterscheidungen und Verschiedenheiten ist unbestreitbar. Es sind nicht alle Menschen gleich. Sie sind verschieden in ihrem Ausdruck der Göttlichkeit. Viele sind bis jetzt wirklich untermenschlich. Andere sind einfach menschlich, und noch andere beginnen Eigenschaften und Merkmale zu entfalten, die übermenschlich sind. Es mag sich die berechtigte Frage erheben: Wann tritt die Möglichkeit an den Menschen heran, das Menschliche zu überschreiten und göttlich zu werden? Zwei Faktoren werden zu jener Zeit herrschen: er wird die emotionelle und die physische Natur überwunden haben, und beim Eintreten in das Reich der Gedanken sollte er irgendwie auf Ideale reagieren, wie sie ihm durch die Denker der Welt [141] dargeboten werden. Es muss eine Zeit im Fortschreiten jedes menschlichen Wesens kommen, da die Entwicklung der dreifachen menschlichen Natur physisch, emotionell und mental einen Punkt möglicher Synthese erreicht. Dann wird er eine Persönlichkeit. Er denkt, er entscheidet, er bestimmt. Er übernimmt Kontrolle über sein Leben, und er ist jetzt nicht nur ein Zentrum, das Tätigkeit veranlasst, sondern sein Einfluss beeindruckt die Welt. Das machtvolle Hereinkommen der Eigenschaft und Fähigkeit zu denken macht das möglich.

Dieses Beharren auf dem Denken, diese Entschlossenheit, das Leben nach dem Gesichtspunkt des Denkens und nicht des Gefühls zu handhaben, unterscheidet eine Persönlichkeit von der Masse menschlicher Wesen. Der Mensch, der denkt und nach Entschlüssen und Antrieben handelt, die ihren Ursprung in richtig erwogenen Gedankengängen haben, wird mit der Zeit eine «Persönlichkeit» und beginnt, andere Denken zu beeinflussen, ja einen deutlichen Einfluss auf andere Menschen auszuüben. Jedoch überwacht der innere geistige Mensch, den wir das «Individuum» nennen möchten, die Persönlichkeit. Hier ist Christus wieder erfolgreich, und die zweite Dualität, die er so bezeichnend auflöste, ist die des persönlichen Selbstes und der «Individualität». Das Endliche und das Unendliche musste in eine enge Beziehung gebracht werden. Dies stellte Christus in der Verklärung dar, als er mittels einer geläuterten und entwickelten Persönlichkeit die Natur und Eigenschaft Gottes manifestierte. Die vergängliche Natur war überstiegen worden und konnte seine Handlungen nicht länger steuern. Er war in seinem Bewusstsein ins Reich der einschliessenden Verwirklichung hinübergegangen, und die gewöhnlichen Regeln, die das vergängliche Individuum mit seinen geringfügigen Problemen und seiner unbedeutenden Reaktion auf Ereignisse und Personen beherrschen, konnten ihn nicht länger beeinflussen, noch sein Verhalten bestimmen. Er hatte Kontakt mit jenem Reich des Seins erhalten, in dem nicht nur Verstehen, sondern Friede durch Einheit herrschen.

Christus hatte Regeln, Festlegungen und Bedeutungen hinter sich gelassen, und infolgedessen wirkte er als ein Individuum, nicht als eine menschliche Persönlichkeit. Er wurde beherrscht von den im Reich des Geistes herrschenden Gesetzen. Das wurde von [142] den drei Aposteln in der Verklärung erkannt, und das führte zu ihrer Unterwerfung unter ihn als dem Einen, der fortan für sie das Göttliche vertrat. Christus vereinigte in der Verklärung in sich Gott und Mensch, indem seine entfaltete Persönlichkeit sich mit seiner Individualität verband. Er stand da als der vollkommene Ausdruck der äussersten Möglichkeit, nach der die Menschheit streben kann. Die Dualitäten, von denen die Menschen der so unglückliche Ausdruck sind, begegneten sich in ihm und ergaben eine Synthese von solcher Vollkommenheit, dass er für alle Zeiten das Ziel unserer Menschheit bestimmte.

Es gibt noch eine höhere Synthese, die Christus ebenfalls in sich vollzog, die Synthese des Teils mit dem Ganzen, der Menschheit mit der letzten WIRKLICHKEIT. Die Geschichte des Menschen ist eine der Entwicklung aus dem Zustand unbewusster Massenreaktionen zu einer langsam erkannten Gruppen-Verantwortlichkeit gewesen. Das menschliche Wesen niederen Grades oder der nicht denkende Einzelne hat ein Kollektivbewusstsein. Er mag sich als eine Person ansehen, aber er kann nicht klar denken hinsichtlich der menschlichen Beziehungen oder in bezug auf den Platz der Menschheit auf der Stufenleiter des Seins. Er ist leicht beeinflusst durch das Massen- oder Kollektivdenken und ist organisiert und genormt durch Massenpsychologie. Er bewegt sich im Rhythmus mit der Masse der Menschen; er denkt, wie sie denken (wenn er überhaupt denkt); er fühlt leicht, wie die Massen fühlen, er ist nicht unterschieden von seiner Art. Hierauf gründen Redner und Diktatoren ihren Erfolg. Durch ihre Redekunst mit gewandter Zunge oder durch ihre magnetischen und beherrschenden Persönlichkeiten bewegen sie die Massen nach ihrem Willen, weil sie mit dem kollektiven, wenn auch unentwickelten Bewusstsein arbeiten.

Von diesem Stadium gehen wir über zu jenem der hervortretenden Persönlichkeit, die ihr eigenes Denken hat, ihre eigenen Pläne macht und nicht durch Worte reglementiert und verlockt werden kann. Diese ist ein denkendes Individuum, und das Kollektivbewusstsein und das Massendenken kann sie nicht in Knechtschaft halten. Das sind jene Menschen, die zur Befreiung übergehen, und die, von einer Bewusstseinserweiterung zur anderen, allmählich [143] bewusst integrierte Teile des Ganzen werden. Schliesslich wird die Gruppe und ihr Wille (nicht die Masse und ihr Fühlen) von höchster Bedeutung sein, denn sie sehen die Gruppe, wie Gott sie sieht, werden Hüter des göttlichen PLANS und bewusste, wesentliche, intelligente Teile des Ganzen. Sie wissen, was sie tun, und warum sie es tun. Christus verschmolz und verband in sich den Teil mit dem Ganzen und bewirkte ein Einswerden zwischen dem synthetischen, zusammenfassenden Willen Gottes und dem individuellen Willen, der persönlich und begrenzt ist. In einem Kommentar zur Bhagavad Gita, jenem höchsten Beweis für das Leben des Ganzen, wie es in Gott vereinigt und verschmolzen ist, führt Charles Johnston aus:

«Die Wahrheit würde so erscheinen, dass an einem gewissen Punkt im geistigen Leben der eifrige Schüler, der überall gesucht hat, seine Seele mit der Grossen Seele in Einklang zu bringen, der gestrebt hat, seinen Willen dem göttlichen Willen anzugleichen, durch eine bestimmte geistige Erfahrung hindurchgeht, in der die Grosse Seele ihn aufwärts zieht, der göttliche Wille sein Bewusstsein zur Einheit mit dem göttlichen Bewusstsein erhebt. Für eine Zeit empfindet und fühlt er nicht länger als Person, sondern als Überseele, er empfängt eine tiefe Vision von den göttlichen Wegen des Lebens und fühlt mit der unendlichen Macht, die gleicherweise durch Leben und Tod, durch Freude und Sorge, durch Vereinigung und Trennung, durch Schöpfung, Zerstörung und Neuschöpfung wirkt. Die Ehrfurcht und das Geheimnis, welche diese grosse Enthüllung umgeben, haben ihr Siegel auf alle gesetzt, die durch sie hindurchgegangen sind». (Die Bhagavad Gita, übersetzt von Charles Johnston, engl., S. 128)

Der Durchschnittsmensch ist weit entfernt von dieser Verwirklichung, und noch weiter davon ist der Unentwickelte.

Das Göttliche ist das Ganze, erfüllt und beseelt vom Leben und Willen Gottes. In äusserster Selbsthingabe, mit aller Kraft seiner gereinigten Natur und seines göttlichen Verstehens und seiner Weisheit vereinigte Christus in sich das Kollektivbewusstsein, die menschliche Verwirklichung und die göttliche Ganzheit. Eines Tages werden wir das klarer verstehen. Jetzt können wir es nicht begreifen, ausser die Verklärung wäre für uns kein Ziel, sondern eine Realität.

Es ist [144] interessant, sich einer anderen von Christus vollzogenen Einswerdung zu erinnern. Er vereinigte in sich die Vergangenheit und die Zukunft, insofern es die Menschheit betrifft. Dies wird auf dem Berg der Verklärung bezeichnend dargestellt in seinem Erscheinen mit Moses und Elias, den Vertretern des Gesetzes und der Propheten. In der einen Gestalt finden wir die Vergangenheit des Menschen mit ihrer Zusammenfassung im Gesetz des Moses versinnbildlicht, das dem Menschen nicht zu überschreitende Grenzen setzt. Es bedeutet das Verbot, das er seiner niederen Natur, der Wunschnatur, entgegensetzen und betont die Einschränkungen, welche die Menschheit als ganzes ihren Handlungen auferlegen muss. Sorgfältiges Studium wird offenbaren, dass alle diese Gesetze die Beherrschung und Kontrolle der Wunschnatur, des emotionellen, empfindenden Körpers betreffen, auf die wir uns bereits beziehen mussten. Sonderbar genug, der Name Moses bedeutet (nach Cruden's Concordance) «aus dem Wasser gezogen». Wir haben bereits gesehen, dass Wasser das Symbol der flüssigen, emotionellen Wunschnatur ist, in der sich der Mensch gewohnheitsmässig aufhält. Moses erschien daher mit Christus als Vertreter der emotionellen Vergangenheit des Menschen, und die Methode ihrer Beherrschung wird später abgelöst werden, wenn die Botschaft des Lebens Christi richtig verstanden wurde und durch das Bewusstsein des Menschen in immer grösserer Fülle strömt. Christus zeigte das neue, zusammenschliessende Gebot an, das lautet «einander zu lieben». Dieses würde alle Gesetze und die Propheten unnötig machen und die zehn Gebote in den Hintergrund des Lebens verweisen, sie überflüssig machen, weil die Liebe, die vom Menschen zu Gott und von Mensch zu Mensch fliessen wird, automatisch und sicher jenes rechte Handeln erzeugt, das ein Brechen der Gebote unmöglich machte. Das «Du sollst nicht!» Gottes, auf dem Berge Sinai durch Moses ausgesprochen, mit seiner negativen Betonung und strafenden Auslegung, wird dem Leuchten der Liebe, dem Verstehen guten Willens und dem Licht Platz machen, die Christus auf dem Berg der Verklärung ausstrahlte. Die Vergangenheit begegnete in ihm einer lebensvollen Gegenwart und wurde durch diese abgelöst.

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.