Netnews Homepage     Zurück     Vorwärts      Index      Inhaltsverzeichnis
Von Bethlehem nach Golgatha, Seite 106 ff. (engl.)
Jesus herab.

Zweitens, die wesentlichen Dualitäten des Daseins sind für uns in der Bibel sinnbildlich dargestellt. Das Alte Testament steht für den natürlichen niederen Menschen, den Jungfrau-Maria-Aspekt, der in sich die Verheissung des Messias trägt, dessen, der kommen soll. Das Neue Testament steht für den geistigen Menschen, für den fleischgewordenen Gott und für die Geburt dessen, was die materielle Natur so lange trug und verhüllte. Das Alte Testament beginnt mit der Erscheinung des Raben zur Zeit der Erschaffung der alten Welt, soweit wir beginnen, es zu wissen. Das Neue Testament beginnt mit der Erscheinung der Taube, eines das Symbol der tobenden Wasser, das andere das Symbol der Wasser des Friedens. Durch Christus und die Entfaltung des Christuslebens in jedem menschlichen Wesen wird «der Friede» kommen, «welcher alle Vernunft übersteigt» (Philister IV/7).

Als Christus da in den Wassern des Jordan stand, sah er die Welt als Mensch. Als er auf dem Berg der Verklärung stand, sah er die Welt als Gott. Doch in dieser Einweihung stand er auf einer Ebene mit seinen Brüdern und verkörperte Reinheit und Frieden. Lasst uns daran denken, dass «vom Gesichtspunkt anderer nur jener Mensch schöpferisch ist, der sie über das, was sie bereits wissen, hinausführen kann; doch dies kann er nicht tun, bis er ihnen in ihrem Wissen gleich geworden ist». (Die Entdeckung der Wahrheit, von Hermann Keyserling, S. 216)

Dies ist ein Punkt, den man im Gedächtnis behalten sollte. Christus [107] war gereinigt. Aber vor ihm lagen die Versuchungen. Er hatte in seinem Bewusstsein (von neuem oder durch das Wiederauftauchen einer alten Vergangenheit von Prüfungen und Erprobungen) uns gleich zu werden in allen Punkten, von Sünde, von Schwäche und menschlicher Fehlerhaftigkeit, von menschlichem Erfolg und Zielstreben. Christus hatte sowohl seine moralische Grösse als auch seine Göttlichkeit zu erweisen und seine Vollkommenheit als ein Mensch, der Reife erlangt. Er hatte durch die Prüfungen zu gehen, denen sich jeder, der Bürger des Reichs werden möchte, unterwerfen muss, wenn er aufgerufen ist, seine Tauglichkeit für die Vorrechte dieses Reichs zu beweisen. Von diesem Reich ist die Kirche das äussere und sichtbare Symbol, und obwohl fehlerhaft und schwach in der Auslegung seiner wesentlichen Lehren, versinnbildlicht sie die Form des Reichs Gottes. Aber dies ist nicht das Reich der Theologen. Es kann nicht betreten werden durch die Annahme eines gewissen formellen Glaubens. Jene haben es betreten, die durch die neue Geburt geschritten und hinabgestiegen sind zum Jordan.

Die Bürgerschaft dieses Reichs ward erprobt in der Person Christi, und so ging er hinunter in die Wüste, um dort vom Teufel versucht zu werden.

3.

In dieser uns vertrauten Episode im Leben Jesu Christi ist uns vielleicht die erste wirkliche Einsicht in die Vorgänge seines innersten Denkens gegeben worden. Die folgenden Worte eröffnen die Geschichte, und sie sind bedeutungsvoll:

«Und siehe, eine Stimme vom Himmel sagte: Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Dann ward Jesus vom Geist in die Wüste geführt, um vom Teufel versucht zu werden». (Matth. III/17, IV/1)

Diese Erzählung von der Versuchung in der Wüste ist höchst umstritten. Viele Fragen sind vorgebracht worden, und von dem ernsthaften Gläubigen, der sich bemüht, gesunden Menschenverstand, die Göttlichkeit Christi und den Teufel in Einklang zu bringen, ist manche Seelenqual erlitten worden. War es möglich, dass [108] Christus in Wirklichkeit versucht werden konnte, und wenn, konnte er in Sünde gefallen sein? Begegnete er diesen Versuchungen als der allmächtige Sohn Gottes, oder begegnete er ihnen als ein Mensch und deshalb als Objekt der Versuchung? Was ist mit dem Teufel gemeint? Und wie war die Beziehung Christi zum Bösen? Wäre uns diese Wüstengeschichte niemals erzählt worden, wie würde unsere Haltung Christus gegenüber gewesen sein? Was geschah wirklich im Bewusstsein Christi, während er in der Wüste weilte? Zu welchem Zweck ist es uns erlaubt, diese Erfahrung mit ihm zu teilen?

Viele solcher Fragen tauchen im Denken des intelligenten Menschen auf, und viele Kommentare wurden geschrieben, um die besonderen Standpunkte eines jeden Schriftstellers zu beweisen. Es ist nicht der Zweck dieses Buches, den schwierigen Gegenstand des «Bösen» zu behandeln, noch die Zeiten zu bestimmen, in denen Christus als Mensch, und jene, in denen er als Sohn Gottes wirkte. Manche glauben, dass er gleichzeitig beides war, «wahrer Gott vom wahren Gott» (Athanasianisches Glaubensbekenntnis), und doch zu gleicher Zeit im Wesen ausgesprochen menschlich. Die Menschen machen diese Feststellungen, doch sie sind geneigt, die Folgerungen zu vergessen. Sie behaupten entschieden ihren Standpunkt und unterlassen es, ihre Haltung zu einem logischen Schluss zu bringen. Die Folgerung ist, dass uns erlaubt wird, von der Versuchung zu wissen, damit uns als menschlichen Wesen eine notwendige Lektion gelehrt wird. Lasst uns deshalb die Geschichte vom Blickwinkel der Menschlichkeit Christi studieren und niemals vergessen, dass er Gehorsam gegenüber dem göttlichen Geist, der Seele im Menschen, gelernt hatte, und dass er seinen Manifestationskörper beherrschte.

«Er wurde in allen Punkten versucht, wie wir auch, nur ohne Sünde». (Hebräer IV/15) Er kam in einem menschlichen Körper und unterlag menschlichen Bedingungen, wie wir auch, erlitt Schmerzen und Qualen, erfühlte Erbitterung und war durch Körper, Umgebung und Zeit bedingt, wie wir alle es sind. Aber weil er gelernt hatte, sich zu bemeistern, und weil das Rad des Lebens sein Werk an ihm getan hatte, konnte er dieser Erfahrung gegenüberstehen, dem Übel Aug' in Auge begegnen und triumphieren. Er lehrte uns dabei, wie der Versuchung zu begegnen sei, [109] was zu erwarten ist, wenn Jünger sich auf Einweihung vorbereiten, und die Methode, durch die Übel in Gutes verwandelt werden kann. Er begegnete der Versuchung mit keiner grossartigen neuen Technik oder Offenbarung. Er griff einfach auf das zurück, was er wusste und was ihm gelehrt und gesagt worden war. Er begegnete der Versuchung jedesmal mit: «Es steht geschrieben. ...» (Matth. IV/4, 7, 10) und gebrauchte keine neuen Kräfte, um den Teufel zu bekämpfen. Er nutzte einfach das Wissen, das er besass. Er verwendete keine göttlichen Kräfte, um den Bösen zu überwältigen. Er benutzte einfach das, was wir alle besitzen: erworbenes Wissen und die uralten Regeln. Er siegte, weil er gelehrt worden war, sich zu überwinden. Er war der Meister der Umstände zu jener Zeit, weil er gelernt hatte, sich zu bemeistern.

Solch eine Herrschaft der Seele mag in der Tat jenseits unseres gegenwärtigen Erreichens liegen, aber der Befehl Christi gilt für alle Zeit: «Seid deshalb vollkommen. ...» (Matth. V/48) Eines Tages werden auch wir den Versuchungen in der Wüste gegenüberstehen und auch hindurchkommen wie er, unbefleckt und unbesiegt. Solche Erfahrung ist unvermeidlich für alle, man kann ihr schliesslich nicht entrinnen. Christus entkam ihr nicht, und wir werden es auch nicht. «Gerade in der Möglichkeit, versucht zu werden», sagt Dr. Selbie, «zeigt sich die Grösse der menschlichen Natur. Ohne sie würden wir bloss unmoralische Kreaturen sein. ... Gerade durch die Fähigkeit, zwischen den Zielen und den Tätigkeiten, die zu ihnen führen, auszuwählen, erhebt sich die Möglichkeit der Sünde». (Psychologie der Religionen, engl., von Dr. Selbie, S. 228) Dies erfordert mehr als oberflächliche Betrachtung. In der Wüstenerzählung steht die Menschheit selbst auf dem Spiel. Die ganze Welt materieller Dinge, der Wünsche und des ehrgeizigen Strebens ward hingestellt vor Christus, und weil er darauf in seiner Art reagierte, und weil keiner dieser Aspekte des Lebens ihn reizen konnte, können auch wir frei stehen, unseres eigenen endlichen Sieges gewiss. Christus erreichte als Mensch den Sieg. Wir können dasselbe tun.

Für diesen Triumph der Seele über die Materie und des Wirklichen über das Unwirkliche gab Christus Zeugnis in der Wüstenerfahrung, und alle, die seinen Fussspuren folgen, bewegen sich auf das gleiche Ziel zu. Sein Triumph wird der unsere sein, wenn wir dem Problem in demselben Geist wie er begegnen, indem wir das Licht der Seele darauf lenken und uns auf frühere Erfahrung stützen.

In der Einweihung der Taufe wurde Christi Reinheit und Freisein vom Bösen vor den Menschen dargestellt. Nun haben sie sich einer anderen Prüfung zu unterziehen. Von der Menge und von der Erfahrung ging er in die Einsamkeit, und vierzig Tage und Nächte war er allein mit sich, stand zwischen Gott und dem Bösen. Wodurch konnte diese böse Kraft ihn erreichen? Durch die Vermittlung seiner eigenen menschlichen Natur, durch das Mittel der Einsamkeit, des Hungers und seiner eigenen Visionen. Christus war auf sich zurückgeworfen, und dort in dem Schweigen der Wüste, allein mit seinen Gedanken und Wünschen, ward er in all den Teilen seiner Natur versucht, die verwundbar sein könnten. «Wie er ist, so sind wir in dieser Welt» (Joh. IV/17), verwundbar in allen Punkten. Die Schwierigkeit liegt bei den meisten von uns darin, dass wir bei jeder törichten Gelegenheit zu fallen geneigt sind. Der Schwerpunkt der Situation, soweit als Christus betroffen war, bestand darin, dass diese drei Versuchungen Prüfungen höchsten Grades darstellten, in denen die drei Aspekte der niederen Natur einbezogen waren. Es waren synthetische Versuchungen. In ihnen war kein kleinliches, törichtes, spielerisches Versuchen, sondern die Zusammenfassung der Kräfte des dreifachen niederen Menschen physisch, emotionell und mental in eine höchste Anstrengung, um den Sohn Gottes zu erproben. Das Böse ist so beschaffen, und wir alle werden eines Tages vor dieser Prüfung stehen, diesem dreifachen Übel, diesem Teufel, so, wie Christus ihm gegenüberstand. Dreimal ward er versucht, und dreimal widerstand er, und erst, nachdem diese Neigung, auf die Form und auf materiellen Nutzen zu reagieren, endgültig beiseitegesetzt war, konnte Christus zu seinem Weltdienst und zum Berg der Verklärung weitergehen. Einer der feinsten Denker auf dem Gebiet christlicher Auslegung heute sagt, dass «alle jene, die für das Reich bestimmt sind, für die auf Erden begangene Schuld durch standhaftes Widerstehen gegenüber der sich zu einem letzten Angriff sammelnden Weltmacht Vergebung erlangen müssen. Denn infolge [111] dieser Schuld waren sie noch anfällig für die Kraft der Gottlosigkeit. Ihre Schuld bildet ein Gegengewicht gegen das Kommen des Reichs». (Das Mysterium des Reichs Gottes, von Albert Schweitzer, S. 253)

Christus fasste diesen letzten Angriff ins Auge und erhob sich siegreich darüber, so verbürgte er uns unseren letzten Sieg.

Der Teufel näherte sich Jesus, als die vierzig Tage einsamer Einkehr vorüber waren. Es wird nicht berichtet, was Christus in diesen vierzig Tagen tat. Kein Bericht ist uns von seinen Gedanken und Entscheidungen gegeben, von seiner inneren Vorstellung und Hingabe zu jener Zeit. Allein fasste er die Zukunft ins Auge, und am Ende widerstand er den Prüfungen, die ihn von der Gewalt seiner menschlichen Natur erlösten.

Wenn wir das Leben Jesu studieren, tritt diese Einsamkeit immer klarer hervor. Die grossen Seelen sind immer einsame Seelen. Sie betreten ohne Begleitung die schwierigsten Abschnitte des langen Weges der Rückkehr. Christus war immer einsam. Sein Geist trieb ihn immer wieder in die Abgeschiedenheit. «Die grossen religiösen Vorstellungen in der Phantasie der zivilisierten Menschheit sind Szenen der Einsamkeit: Der an den Felsen gekettete Prometheus, der in der Wüste brütende Mohammed, die Meditationen des Buddha, der einsame Mann am Kreuz. Es gehört zur Tiefe des religiösen Geistes, sich sogar von Gott verlassen zu fühlen». (Religion im Werden, engl., von A. N. Whitehead, S. 9)

Das Leben Christi wechselte ab zwischen der Menge, die er liebte, und der Stille einsamer Orte. Zuerst ist er in dem täglichen Leben der Familienerfahrung zu finden, wo die Vertrautheit der Persönlichkeiten die Seele so traurig einkerkern kann. Von hier ging er in die einsame Wüste und war allein. Er kehrte zurück, und sein öffentliches Leben begann, bis auf dessen Offenkundigkeit mit ihrem Lärm und Geschrei die tiefe innere Stille des Kreuzes folgte, wo er, verlassen von allen, durch die tiefe dunkle Nacht der Seele ging, aufs äusserste allein. Jedoch in diesen Augenblicken völligen Schweigens, wenn die Seele auf sich zurückgezogen und niemand zur Hilfe da ist, keine helfende Hand und keine stärkende Stimme, kommen die Offenbarungen, und jene klare Einsicht wird entwickelt, die einen Erlöser befähigt, hervorzutreten und der Welt zu helfen.

Christus wurde [112] vom Teufel versucht. Ist es nötig, in einem Buch wie diesem eine Darstellung des Teufels zu geben? Ist es nicht augenscheinlich, dass es heute in der Welt zwei vorherrschende Begriffe gibt, beide treten als Faktoren im Bewusstsein der Jugend auf und bestimmen ihren späteren Glauben, der Teufel und der Heilige Nikolaus oder der Weihnachtsmann? Diese Namen verkörpern entgegengesetzte Ideen. Jede von ihnen symbolisiert eines der zwei Hauptprobleme, mit denen der Mensch in seinem täglichen Leben zu tun hat. Sie werden von orientalischen Philosophen die «Paare der Gegensätze» genannt, und sicher ist es die Art, in welcher der Mensch diese zwei Aspekte des Lebens handhabt, und seine subjektive Haltung zu ihnen, die entscheidet, ob sein Leben

Netnews Homepage     Zurück     Vorwärts      Index      Inhaltsverzeichnis
Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.