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Von Bethlehem nach Golgatha, Seite 4 ff. (engl.)
Gottes und der Bruderschaft der Menschen von den besten Geistern der Menschheit gutgeheissen. Jene, die sich in der Welt der Ideen, des Glaubens und der lebendigen Erfahrung bewegen können, bezeugen seine Göttlichkeit und die Tatsache, dass man ihm sich nähern kann. Aber ein solches Zeugnis wird als mystisch, nutzlos und nicht beweisbar leicht übergangen. Individueller Glaube ist hiernach von keinem Wert für irgend jemand, ausgenommen den Glaubenden selbst, aber es besteht die Neigung, das Zeugnis zu verstärken, bis das Ergebnis solche Ausmasse annimmt, dass es schliesslich zum Beweis wird. Auf den «Weg des Glaubens» zurückzukehren, kann also eine lebendige Erfahrung anzeigen, kann allerdings auch eine Form von Selbsthypnose, ein «Weg des Entkommens» aus den Schwierigkeiten und Problemen des täglichen Lebens sein. Die Anstrengung, zu verstehen, zu experimentieren, Erfahrungen zu machen und das Erkannte und Geglaubte auszudrücken, fällt den meisten Menschen zu schwer, und dann fallen sie zurück in einen Glauben, der auf dem Zeugnis des Vertrauten beruht, als leichtester Weg aus dieser Sackgasse.

Das Problem der Religion und das Problem des orthodoxen Christentums sind nicht ein und dasselbe. Vieles, was wir heute an Unglauben, Kritik und Verneinung unserer sogenannten Wahrheiten um uns sehen, beruht auf der Tatsache, dass Religion weithin verdrängt worden ist durch das Glaubensbekenntnis; Doktrin hat den Platz der lebendigen Erfahrung eingenommen. Diese lebendige Erfahrung ist der Grundgedanke dieses Buches. Ein anderer Grund, warum die Menschheit zu dieser Zeit so wenig glaubt und so unglücklich bezweifelt, was sie glaubt, mag die Tatsache sein, dass die Theologen versucht haben, das Christentum aus seinem Platz in dem Plan der Dinge herauszuheben, und dass sie seine Stellung im grossen Zusammenhang göttlicher Offenbarung übersehen haben. Sie waren bestrebt, seine Einzigartigkeit zu betonen und es als einen völlig getrennten, isolierten Ausdruck spiritueller Religion zu betrachten. Dabei zerstören sie seinen Hintergrund, rütteln an seinen Grundlagen und machen es für den [5] ständig sich entwickelnden Verstand des Menschen schwierig, diese Darstellung anzunehmen. Schon Augustin sagt jedoch, dass «das, was die christliche Religion genannt wird, schon im Altertum bestanden hat, vom Beginn der Menschenrasse an, bis Christus sich verkörperte; zu welcher Zeit die wahre Religion, die schon bestand, Christentum genannt wurde». (Zitiert von Kingsland in «Religion im Licht der Theosophie»). Die Weisheit, die Verwandtschaft mit Gott zum Ausdruck bringt, die Richtlinien, die unsere Wanderschaft zum Vaterhaus zurück lenken, und die Lehre, die Offenbarung bringt, waren durch alle Zeiten hindurch immer die gleichen und sind identisch mit dem, was Christus lehrte. Die Gesamtheit innerer Wahrheiten, dieser Reichtum göttlicher Weisheit haben seit undenklichen Zeiten bestanden. Es ist die Wahrheit, die Christus offenbarte, aber er tat mehr als dies. Er offenbarte in sich und durch seine Lebensgeschichte, was diese Weisheit und dieses Wissen für den Menschen bedeuten könnte. Er stellte in sich den vollen Ausdruck der Göttlichkeit dar und wies seine Jünger an, dass sie hingehen und das Gleiche tun sollten.

In die Reihe der Offenbarungen tritt das Christentum in seinem Ausdruckszyklus unter dasselbe göttliche Gesetz, das alle Manifestation beherrscht: das Gesetz zyklischer Erscheinung. Diese Offenbarung geht durch die Phasen aller FormManifestation oder Erscheinung; dann Wachstum und Entwicklung, und zuletzt (wenn die Periode ihrem Ende zugeht) Kristallisation und ein allmähliches, aber ständiges Betonen des Buchstabens und der Form, bis der Tod dieser Form unvermeidlich und ratsam wird. Doch der Geist lebt weiter und nimmt neue Formen an. Der Geist Christi ist unsterblich, und so, wie er in alle Ewigkeit lebt, muss auch das, zu dessen Sichtbarmachung er sich inkarnierte, leben. Von der Zelle im Mutterleib, dem Zustand des Kleinkindes, bis zu dessen Entwicklung zum Mann dem allen unterwarf er sich und unterzog sich jenen Prozessen, die das Schicksal jedes Gottessohnes sind. Wegen dieser Unterwerfung und, «weil er aus dem, was er erlitt, Gehorsam lernte» (Hebräer V/8), konnte er damit betraut werden, den Menschen Gott zu offenbaren und (dürfen wir es sagen?) Gott das Göttliche im Menschen. Denn das Evangelium [6] zeigt uns, dass Christus unaufhörlich diese Erkenntnis vom Vater aufruft. Die grosse Folge von Offenbarungen ist unser ganz unschätzbarer Besitz, und dazu gehört auch die christliche Religion. Gott hat sich niemals ohne Zeugen gelassen und wird es niemals tun. Die Stellung des Christentums als Erfüllung der Vergangenheit und eine Stufe in die Zukunft wird oft vergessen; und dies ist vielleicht einer der Gründe, weshalb man von einem Versagen des Christentums spricht und nach jener geistigen Offenbarung Ausschau hält, die so äusserst notwendig zu sein scheint. Wenn dieser Zusammenhang und der Platz des christlichen Glaubens darin nicht nachdrücklich betont wird, so könnte die Offenbarung kommen und unerkannt vorübergehen. «Es gab», wird uns gesagt, «in jedem alten Land, das Anspruch auf Zivilisation erhob, eine esoterische Lehre, ein System, das als Weisheit bezeichnet wurde, und jene, welche seinem Dienst geweiht waren, wurden zuerst Kluge oder Weise genannt. Pythagoras bezeichnete dieses System als ... die Gnosis oder das Wissen der Dinge, welche sind. Unter der erhabenen Bezeichnung WEISHEIT fassten die alten Lehrer, die Weisen Indiens, die Magier Persiens und Babylons, die Seher und Propheten Israels, die Hierophanten Ägyptens und Arabiens, die Philosophen von Griechenland und dem Westen alles Wissen zusammen, das sie als wesentlich göttlich ansahen. Ein Teil wurde als esoterisch, der Rest als exoterisch unterschieden. (H. P. Blavatsky: «Die Geheimlehre», engl., III, S. 55). Wir wissen viel von der exoterischen Lehre. Orthodoxes und theologisches Christentum ist darauf gegründet, wie alle orthodoxen Formulierungen der grossen Religionen. Wenn jedoch die innere Weisheitslehre vergessen, die esoterische Seite übersehen wird, dann verschwinden der Geist und die lebendige Erfahrung. Wir waren mit den Einzelheiten der äusseren Form des Glaubens beschäftigt, haben aber den inneren Sinn, der für den Einzelnen und auch für die Menschheit Leben und Erlösung bringt, kläglich vergessen. Wir sind eifrig gewesen, über Unwesentlichkeiten der überlieferten Auslegung zu streiten, und haben es unterlassen, das Geheimnis und die praktische Durchführung des christlichen Lebens zu lehren. Wir haben die doktrinären und dogmatischen Seiten überbetont und den Buchstaben vergöttert, während in der ganzen Zeit die Seele des Menschen nach dem Geist des Lebens [7] schrie, den der Buchstabe verhüllte. Wir haben uns um die historischen Aspekte der Evangelien gequält, um das Zeitelement und die wörtliche Genauigkeit der vielen Übersetzungen, während wir versäumten, die wirkliche Herrlichkeit von Christi Vollendung zu sehen, und die bedeutsame Lehre, die sie für den Einzelnen und die Menschheit enthält. Das Drama seines Lebens und seine praktische Anwendung in den Leben seiner Nachfolger hat man aus den Augen verloren durch die unangebrachte Bedeutung, die an gewisse Sätze geknüpft wurde, die er gesagt haben soll, während das, was er in seinem Leben zum Ausdruck brachte, und die Beziehungen, die er nachdrücklich betonte und als in seine Offenbarung eingeschlossen betrachtete, völlig ignoriert wurden.

Wir haben um den historischen Christus gekämpft und beim Kämpfen die Sicht verloren von seiner Botschaft der Liebe zu allen Wesen. Fanatiker streiten über seine Worte und vergessen, dass er das «fleischgewordene Wort» war. Wir diskutieren über die jungfräuliche Geburt Christi und vergessen die Wahrheit, welche diese Inkarnation lehren sollte. Evelyn Underhill sagt in ihrem sehr wertvollen Buch «Mystizismus» dass «die Inkarnation, welche für das volkstümliche Christentum gleichbedeutend ist mit der historischen Geburt und dem irdischen Leben Christi, für den Mystiker nicht nur dieses ist, sondern auch ein fortgesetzter kosmischer und persönlicher Vorgang».

Gelehrte verbrachten ihr Leben mit dem Nachweis, dass die ganze Geschichte nur ein Mythos ist. Es sollte jedoch herausgestellt werden, dass ein Mythos der zusammengefasste Glaube und das Wissen der Vergangenheit ist, uns überliefert zu unserer Führung und zum Bilden der Grundlage einer neuen Offenbarung, und dass sie eine Stufe zur nächsten Wahrheit bildet. Ein Mythos ist eine gültige und bewiesene Wahrheit, welche Stufe für Stufe die Kluft zwischen dem in der Vergangenheit gewonnenen Wissen, der gegenwärtig formulierten Wahrheit und den unendlichen und göttlichen Möglichkeiten der Zukunft überbrückt. Die alten Mythen und die alten Mysterien geben uns eine aufeinanderfolgende Darbietung der göttlichen Botschaft, wie sie entsprechend dem Bedürfnis der Menschen durch alle Zeiten von Gott ausgegangen ist. Die Wahrheit des einen Zeitalters wird der Mythos des nächsten, aber ihre Bedeutung und ihre Wirklichkeit bleiben unberührt, erfordern nur eine Neuauslegung in der Gegenwart.

Wir sind [8] frei zu wählen oder abzulehnen, aber lasst uns zusehen, dass wir mit offenen Augen wählen, mit jenem Scharfsinn und jener Weisheit, die das Kennzeichen derjenigen ist, die auf dem Pfad der Rückkehr ein beträchtliches Stück vorangekommen sind. Es ist Leben und Wahrheit und Vitalität im Evangelium, sie sollen durch uns wieder angewendet werden. Es ist Dynamik und Göttlichkeit in der Botschaft Jesu.

Das Christentum ist für uns heute eine Gipfelreligion. Es ist die grösste der letzten göttlichen Offenbarungen. Vieles davon muss inzwischen als Mythos angesehen werden, weil es zweitausend Jahre zurückliegt; die klaren Umrisse der Geschichte sind verdunkelt und werden ihrer Natur nach häufig als symbolisch betrachtet. Jedoch hinter Symbol und Mythos steht Wirklichkeit, eine wesentliche, dramatische und praktische Wahrheit.

Unsere Aufmerksamkeit ist durch das Symbol und die äussere Form angeregt worden, während die Bedeutung verborgen blieb und darin versagte, unser Leben genügend zu beeinflussen. Bei unserem kurzsichtigen Buchstabenstudium ging uns die Bedeutung des WORTES selbst verloren. Wir müssen hinter das Symbol gehen, zu dem, was es verkörpert, und müssen unsere Aufmerksamkeit von der Welt der äusseren Form hinwenden zu jener der inneren Wirklichkeiten. Hermann Keyserling sagt dies mit folgenden Worten: «Der Vorgang, auf dem Gebiet der geistigen Einstellung von der Ebene des Buchstäblichen zu jener der inneren Bedeutung vorzudringen, kann durch eine einzige Vorstellung dargelegt werden. Er besteht im «Durchschauen» des Phänomens. Jede lebendige Erscheinung ist zuerst und zuletzt ein Symbol; denn das Wesen des Lebens ist Bedeutung. Aber jedes Symbol als der letzte Ausdruck eines Bewusstseinszustand ist in sich durchscheinend für ein anderes, tieferes, und so weiter in Ewigkeit. Denn alle Dinge sind im Lebenszusammenhang innerlich verwandt, und ihre Tiefen wurzeln in Gott.

Deshalb kann keine spirituelle Form jemals ein letzter Ausdruck sein; jeder Sinn, wenn er durchdrungen ist, wird automatisch der mehr buchstäbliche Ausdruck eines tieferen, und damit gewinnt das alte Phänomen eine neue und andere Bedeutung. Die katholische, protestantische, griechisch-katholische Religion, Islam und Buddhismus können im Prinzip auf dem Plan dieses Lebens fortdauern, wie sie immer waren, und dennoch etwas gänzlich Neues bedeuten». (Hermann Keyserling: Die Wiederherstellung der Wahrheit, engl., S. 91/92).

Die einzige Entschuldigung für dieses Buch ist, dass es einen Versuch [9] darstellt, zu dem tieferen Sinn durchzudringen, der den grossen Ereignissen im Leben Christi zugrunde liegt, und das schwachwerdende Streben der Christen zu erneuertem Leben und Interesse zu bringen. Wenn gezeigt werden kann, dass der in den Evangelien offenbarte Bericht sich nicht nur auf jene göttliche Gestalt bezieht, die eine Zeitlang unter den Menschen weilte, sondern dass sie auch für den zivilisierten Menschen heute eine praktische Bedeutung und einen Sinn hat, dann wird ein Ziel gewonnen, ein Dienst und eine Hilfe geleistet. Es ist möglich, dass wir uns heute bei unserer weiter fortgeschrittenen Entwicklung und der Fähigkeit, uns durch feinere Schattierungen des Bewusstseins auszudrücken, die Lehre mit klarerer Vision und zu weiserem Gebrauch der angedeuteten Lektion aneignen können. Dieser grosse Mythos gehört zu uns. Deshalb lasst uns mutig sein und dieses Wort in seiner wahren und rechten Bedeutung gebrauchen. Ein Mythos ist imstande, in der Erfahrung des Menschen eine Tatsache zu werden; denn ein Mythos ist eine Tatsache, die bewiesen werden kann. Die Mythen sind unsere Grundlage, aber wir müssen versuchen, sie im Licht der Gegenwart neu auszulegen. Durch selbsteingeleitete Versuche können wir ihre Gültigkeit beweisen, durch Erfahrung sie als herrschende Kräfte in unserem Leben erkennen und, indem wir sie zum Ausdruck bringen, können wir ihre Wahrheit anderen gegenüber darlegen. Das ist das Thema dieses Buches, das die Tatsachen der Evangelien behandelt, jener fünffach aufeinanderfolgende Mythos, der uns die Offenbarung der Göttlichkeit in der Person Jesu Christi lehrt. Sie bleibt ewige Wahrheit im kosmischen Sinn und im historischen Geschehen sowie in ihrer praktischen Anwendung auf den Menschen.

Dieser Mythos unterteilt sich in fünf grosse Episoden:

1. Die Geburt in Bethlehem

2. Die Taufe im Jordan

3. Die Verklärung auf dem Berge Karmel

4. Die Kreuzigung in Golgatha

5. Die Auferstehung und Himmelfahrt

Ihre Bedeutung für uns und ihre Neuauslegung in modernen Begriffen ist unsere Aufgabe.

Eine [10] Wende und ein Höhepunkt ist erreicht worden in der Menschheitsgeschichte, und der Mensch verdankt dies dem Einfluss des Christentums. Als ein Glied der menschlichen Familie hat er eine Ebene der Integration erreicht, die in der Vergangenheit unbekannt war, mit Ausnahme der

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.