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Das Bewusstsein des Atoms
Schüler der esoterischen Weisheit ist, wird der Argumentationslinie ohne Schwierigkeit folgen können. Denjenigen, die sich zum erstenmal mit der Betrachtung der hier besprochenen Materie befassen, möge die gelegentliche Wiederholung der grundsätzlichen Aussagen zu rascherem Verständnis verhelfen, und es ist dieser Leserkreis, den das Buch vor allem ansprechen will.

September 1922 #Alice A. Bailey

ERSTER VORTRAG

DAS FELD DER EVOLUTION

Wahrscheinlich [11] hat es in der Geschichte des Denkens noch nie eine Periode gegeben, die der gegenwärtigen völlig ähnlich gewesen wäre. Die Denker überall sind sich zweier Dinge bewusst: erstens, dass die Region des Geheimnisvollen noch nie vorher so klar definiert worden ist und zweitens, dass diese Region leichter betreten werden kann, als es bisher der Fall war; sie wird sich deshalb vielleicht auch bereitfinden, einige ihrer Geheimnisse preiszugeben, wenn die Forscher aller Richtungen entschlossen und unbeirrbar weiterarbeiten. Die Probleme, die sich uns beim Studium der bekannten Fakten des Lebens und der Existenz bieten, sind einer klaren Definition viel zugänglicher geworden, und obwohl wir die Antworten auf unsere Fragen bis jetzt noch nicht kennen, obwohl wir auch die Lösungen für unsere Probleme noch nicht gefunden haben und kein Allheilmittel greifbar ist, das die Krankheiten der Welt heilen könnte, so sind allein schon die Tatsachen, dass wir diese Probleme definieren können, dass wir die Richtung angeben können, in der das Geheimnis liegt und das Licht, das Wissenschaft, Religion und Philosophie über ausgedehnte Gebiete verbreitet haben, die früher als undurchdringlich galten, eine Garantie für zukünftigen Erfolg. Wir wissen so viel mehr als dies vor 500 Jahren, ausser in den wenigen Zirkeln weiser Männer und Mystiker, der Fall war, wir haben so viele Naturgesetze entdeckt, selbst wenn wir sie bis jetzt noch nicht anwenden können, und das Wissen «Von den Dingen, wie sie sind» (ich wähle dieses Wort bewusst) hat immense Fortschritte gemacht.

Dennoch, [12] das geheimnisvolle Land muss erst erschlossen werden und unsere Probleme sind zahlreich. Das fängt mit dem Problem unseres eigenen Lebens, was immer das sein mag, an; da ist das Problem dessen, was im weitesten Sinne als das «Nicht-Selbst» bezeichnet wird und unseren physischen Körper ebenso betrifft wie unsere Umgebung, unsere Lebensumstände und Lebensbedingungen. Falls wir mehr introspektiv geartet sind, bilden unsere individuellen Emotionen, Gedanken, Wünsche und Instinkte, durch die wir gewöhnt sind unser Handeln zu regeln, das Problem. Vielfältig sind auch die Probleme der Gruppen; warum sollte es Leiden, Hunger und Schmerz geben müssen? Warum sollte die Menschheit als Ganzes gesehen in so furchtbarer Armut, Krankheit und Beschwernis leben müssen? Welcher Zweck liegt all dem zugrunde, was wir rings um uns sehen und was wird einmal das Resultat der Weltereignisse als Ganzes sein? Was ist die Bestimmung der Menschenrasse, was ist ihr Ursprung und was erklärt ihre gegenwärtige Lage? Gibt es mehr als nur dies eine Leben und kann das einzig Interessante darin zu finden sein, was sichtbar und materiell ist? Immer wieder gehen uns solche Fragen durch den Kopf, genauso, wie sie die Denker bis zurück in die fernsten Zeiten bewegt haben. [13] Versuche, diese Fragen zu beantworten hat es genug gegeben, und wenn wir sie studieren, entdecken wir, dass die Antworten in drei Hauptgruppen zerfallen und drei prinzipielle Lösungen sich zur Betrachtung anbieten, nämlich:

Erstens der Realismus. Eine andere Bezeichnung für diese Denkweise ist Materialismus. Er lehrt, dass «das, was unserem Bewusstsein von der Aussenwelt durch die Sinne dargeboten wird, wahr ist», dass die Dinge sind, wie sie zu sein scheinen; dass Materie und Kraft, wie wir sie kennen, die einzige Wirklichkeit sind und dass es dem Menschen nicht möglich ist, hinter das Berührbare zu schauen. Er sollte sich mit den Tatsachen begnügen, wie sie sind oder wie die Wissenschaft sie ihm erklärt. Das ist zweifellos eine durchaus legitime Methode zur Lösung der Fragen, nur finden einige von uns, dass sie nicht weit genug geht. Sie lehnt es ab, sich mit irgend etwas zu befassen, was jenseits dessen liegt, was bewiesen und anschaulich gemacht werden kann und hört genau an dem Punkt auf, wo der Frager sagt: «Also, das ist so aber warum?» Sie lässt vieles ausserhalb ihrer Berechnung, was beim Durchschnitt der Menschen schon als bekannt und wahr gilt, auch wenn man sich nicht erklären kann, warum man weiss, dass es wahr ist. Überall anerkennen die Menschen die Tatsachengenauigkeit der realistischen Denkrichtungen und der materialistischen Wissenschaft, spüren aber gleichzeitig aus sich heraus, dass irgend eine lebendige Kraft vorhanden sein muss, die dieser bewiesenen Manifestation zugrundeliegt, irgend ein planvoller Zusammenhang, der mit Materiebegriffen allein nicht erklärbar ist.

Zweitens gibt [14] es den Standpunkt, der vielleicht am bezeichnendsten Supranaturalismus genannt werden kann. Dem Menschen wird bewusst, dass die Dinge, nach allem was man weiss, vielleicht doch nicht ganz das sind, was sie zu sein scheinen und noch viel Unerklärbares übrigbleibt. Er erwacht zu der Erkenntnis, dass er selbst nicht lediglich eine Anhäufung physischer Atome, ein materielles Irgendwas und ein berührbarer Körper ist, sondern dass es latent in ihm ein Bewusstsein, eine Kraft gibt, die ihn mit allen anderen Mitgliedern der menschlichen Familie verbindet und gleichzeitig mit einer Macht ausserhalb seiner selbst, die er notgedrungen erklären muss. Das ist es, was zum Beispiel zur Bildung der christlichen und jüdischen Anschauung geführt hat, die einen Gott ausserhalb des Sonnensystems ansiedelt, der es zwar geschaffen hat, selbst aber ausserhalb blieb. Diese Glaubenssysteme lehren, dass die Welt durch eine Macht oder Wesenheit entstanden ist, welche die Welt zurecht regiert, unser kleines Menschenleben in der hohlen Hand hält und alle Dinge «liebevoll in Ordnung hält», entsprechend einer verborgenen Absicht, von der wir mit unserem endlichen Verstand keinen Schimmer haben, und die wir noch viel weniger begreifen können. Das ist der religiöse und «supranatürliche» Standpunkt. Er basiert auf dem wachsenden Selbst-Bewusstsein des Individuums und auf einem Erkennen seiner eigenen Göttlichkeit. Ebenso, wie der Standpunkt der realistischen Denkweise, stellt er lediglich eine Teilwahrheit dar und muss vervollständigt werden.

Die [15] dritte Denkrichtung können wir die Idealistische nennen. Sie postuliert einen Evolutionsprozess innerhalb jeglicher Manifestation und identifiziert «Leben» mit dem kosmischen Prozess. Sie bildet den exakten Gegensatz zum Materialismus und stellt die «supranatürliche» Gottheit des religiösen Postulats in die Position einer grossen Wesenheit oder eines Lebens, das durch oder vermittels des Universums evolviert, ebenso, wie der Mensch durch das Mittel eines physischen Körpers evolvierendes Bewusstsein ist.

In diesen drei Standpunkten, dem eindeutig materialistischen, dem rein supranatürlichen und dem idealistischen, haben wir die Hauptdenkrichtungen, mit denen man den kosmischen Prozess zu erklären versuchte. Alle drei sind Teilwahrheiten und keine ist ohne die anderen vollständig, denn folgt man nur einer, führt jede auf Nebengeleise und in Dunkelheit und lässt das zentrale Geheimnis noch ungelöst. Werden sie zu einer Synthese gebracht, verschmolzen und vereint, verkörpern sie möglicherweise (ich lege dies nur nahe) gerade so viel von der evolutionären Wahrheit, als der menschliche Verstand auf der gegenwärtigen Evolutionsstufe erfassen kann.

Wir behandeln hier [16] grosse Probleme, mischen uns vielleicht gelegentlich in hohe und erhabene Dinge und überschreiten Grenzen, welche die anerkannte Domäne des Metaphysikers sind; und ausserdem unternehmen wir den Versuch, in ein paar kurzen Gesprächen zusammenzufassen, was alle Bibliotheken der Welt enthalten. Mit anderen Worten, wir versuchen das Unmögliche. Wir können also nichts weiter tun, als zuerst den einen und dann einen weiteren Aspekt der Wahrheit kurz und oberflächlich zu betrachten. Was uns dabei möglicherweise gelingen wird, kann lediglich ein Umriss der Grundrichtlinien der Evolution sein, eine Studie ihrer Bezogenheit aufeinander und auf uns selbst als bewusste Wesen; und schliesslich zu versuchen, das Wenige was wir wissen können zu verschmelzen und zu einer Synthese zu führen, bis eine generelle Idee von diesem ganzen Prozess klarer wird. Im Zusammenhang mit jeder Darstellung der Wahrheit dürfen wir nicht vergessen, dass jede von einem bestimmten Standpunkt ausgeht oder gemacht ist. Bevor wir nicht unsere mentalen Prozesse weiterentwickelt haben und ehe wir nicht fähig sind, sowohl in abstrakten als auch in konkreten Begriffen zu denken, wird es weder möglich sein, die Frage «Was ist Wahrheit?» vollständig zu beantworten, noch irgendeinen Aspekt dieser Wahrheit ganz vorurteilsfrei und unvoreingenommen zum Ausdruck zu bringen. Einige haben einen weiteren Horizont als andere und einige können die den verschiedenen Aspekten zugrundeliegende Einheit erkennen. Dagegen sind andere geneigt, ihre Ansicht und Interpretation

für die [17] einzige zu halten. Ich hoffe, dass es mir in diesen Gesprächen gelingt, Ihren Blickwinkel um ein weniges zu erweitern. Denn ich hoffe, dass wir zur Erkenntnis gelangen, dass ein Mensch, der nur am wissenschaftlichen Aspekt interessiert ist und sich auf das Studium derjenigen Manifestationen beschränkt, die rein materiell sind, ebenso mit dem Studium des Göttlichen beschäftigt ist wie sein religiöser Bruder, den nur die spirituelle Seite interessiere; und dass der Philosoph ja letzten Endes den sehr notwendigen Aspekt der Intelligenz hervorhebt, die den Materieaspekt mit dem spirituellen verbindet, so dass beide in ein zusammenhängendes Ganzes übergehen. Es könnte sogar sein, dass wir durch Zusammenfügen dieser drei Linien, Wissenschaft, Religion und Philosophie, zu einer brauchbaren Kenntnis der Wahrheit gelangen, wie sie ist, wenn wir gleichzeitig nicht vergessen, dass die «Wahrheit in uns selber liegt». Niemals umfasst die Wahrheit, die ein einzelner zum Ausdruck bringt, sämtliche Ausdrucksmöglichkeiten dieser Wahrheit; und der einzige Zweck unseres Denkvermögens ist der, uns zu befähigen, konstruktiv für uns selbst in mentaler Materie zu gestalten und mit ihr zu wirken.

Heute möchte ich nur den Plan umreissen, der den Unterbau für unsere künftigen Gespräche bilden und die wichtigsten Grundlinien der Evolution berühren soll. Am augenscheinlichsten ist natürlich die Linie, die mit der Evolution der Substanz zu tun hat, mit dem Studium des Atoms und dem Wesen der atomaren Materie. Nächste Woche werden wir darauf zu sprechen kommen. Die Wissenschaft hat uns viel über die Evolution des Atoms zu sagen und [18] hat seit dem Standpunkt von vor fünfzig Jahren eine grosse Wegstrecke bewältigt. Damals wurde das Atom als eine unteilbare Substanzeinheit angesehen; jetzt wird es als Energiezentrum und elektrische Kraft erkannt. Die Evolution der Substanz führt uns ganz natürlich zur Evolution der Formen oder der Anhäufung von Atomen und dadurch eröffnet sich die interessante Betrachtung von solchen Formen, die sich von rein materiellen unterscheiden - von Formen, die in reinerer Substanz existieren, wie etwa Gedankenformen, den rassischen Formen und den Formen von Organisationen. Bei diesem zweifachen Studium wird jeweils die Betonung auf einem der Aspekte der Gottheit liegen - falls Sie dafür den Begriff «Gottheit» nehmen wollen, oder, wenn Ihnen ein weniger konfessioneller Ausdruck lieber ist, eine der Manifestationen der Natur.

Das führt uns zu Überlegungen über die Evolution der Intelligenz oder des Faktors Denkvermögen, der sich als methodische Absicht in allem auswirkt, was wir ringsum sehen. Das wird uns eine Welt offenbaren, die nicht blind ihren Weg verfolgt, sondern hinter der sich eine Art Planung, ein bestimmtes einheitliches Schema oder organisiertes Konzept verbirgt, das sich mit Hilfe materieller Formen auswirkt. Einer der Gründe, warum sich die Dinge so schwer verständlich machen, ist auch in der Tatsache zu suchen, dass wir uns mitten in einer Übergangsperiode befinden und der Plan bisher noch nicht vollkommen ist; wir sind dem Mechanismus zu nahe, weil wir selbst ein integraler Teil des Ganzen sind. Wir sehen [19] davon ein kleines Teilchen hier und ein anderes Teilchen dort, aber die ganze Grossartigkeit der Idee ist uns noch nicht sichtbar geworden. Wohl haben wir einmal eine Vision, einen hohen Moment der Offenbarung, aber wenn wir mit den Realitäten jeder Seite in Berührung kommen, erscheint uns fraglich, ob sich das Ideal verwirklichen lässt, denn die intelligente Beziehung zwischen der Form und dem, was sie benützt, scheint von einer Angleichung noch weit entfernt.

Die Erkenntnis des Faktors Intelligenz bringt uns unvermeidlich zur Kontemplation über die Evolution des Bewusstseins in seinen vielen Formen, angefangen von den Bewusstseinstypen, die wir als untermenschlich ansehen, über die menschlichen, bis hin zu dem, was logisch als übermenschliches Bewusstsein (auch wenn das nicht demonstrierbar sein mag) postuliert werden kann. So wird die als nächstes auftauchende Frage lauten: Was ist hinter all dem verborgen? Gibt es hinter der objektiven Form und der sie belebenden Intelligenz eine Evolution, die der «Ich»- Fähigkeit, dem Ego im Menschen entspricht? Gibt es in der Natur und dem was wir rings um uns sehen etwas wie die Auswirkung der Absicht einer individualisierten, ihrer selbst bewussten Wesenheit? Wenn es solch ein Wesen, eine solche fundamentale Existenz gibt, dann müssten wir etwas von dessen intelligenter Aktivität sehen und beobachten können, wie sich seine Pläne erfolgreich entwickeln. Selbst wenn wir nicht beweisen können, dass Gott ist und dass die Gottheit existiert, ist es immerhin möglich zu sagen, dass die Hypothese von seiner Existenz ein vernünftiger, rationaler Vorschlag und eine mögliche Erklärung der vielen uns umgebenden Geheimnisse ist. Dazu muss aber erst einmal demonstriert werden, dass eine intelligente Absicht vermittels Formen aller Art, durch Rassen und Völker wirkt und durch alles, was wir in der modernen Zivilisation sich manifestieren sehen; die Schritte, die von dieser

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.