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Die unvollendete Autobiographie, Seite 111 ff. (engl.)
ich meine Pflicht als Frau des Pfarrers und sicherlich war ich sehr nett und freundlich, aber ich fühlte stets eine Schranke. Ich wollte mit den Gemeindemitgliedern möglichst wenig zu tun haben und liess sie das auch deutlich fühlen.

Immerhin fing ich eine Bibelstunde an und hatte damit grossen Erfolg. Ich hatte mehr Zuhörer als mein Mann in seinem Sonntags-Gottesdienst, und das trug wohl mit zu unseren Reibereien bei, die ständig schlimmer wurden. Angehörige aller Kirchengemeinden, mit Ausnahme der katholischen, nahmen an meiner Bibelstunde teil, und das war für mich der einzige Lichtpunkt während der ganzen Woche, zum Teil wohl deshalb, weil mich das mit der Vergangenheit verknüpfte.

Die Wutausbrüche meines Mannes wurden immer hemmungsloser, und ich lebte in ständiger Angst, dass die Gemeindemitglieder davon Wind bekommen könnten, und er seinen Posten verlieren würde. Als Geistlicher war er sehr beliebt, und in seinem Messgewand und seiner Stola war er eine sehr eindrucksvolle Erscheinung. Er war ein sehr guter Kanzelredner. Ich bin ehrlich überzeugt, dass ich nicht allzu viel Schuld hatte. «Was würde Jesus von mir erwarten?» war immer noch der Kernspruch meines Lebens. Ich war keine mürrische Person und auch nicht schnell erregbar, aber ich vermute, dass mein Stillschweigen und meine beharrliche Geduld ihm auf die Nerven gingen. Es gelang mir auch niemals, ihm irgend etwas recht zu machen, und nachdem er alle Fotos und Bücher vernichtet hatte, von denen er glaubte, dass sie mir wert seien, ging er dazu über, mich zu schlagen. Dorothy rührte er allerdings nie an. Er war stets sehr nett zu Kindern.

Meine Tochter Mildred wurde im August des Jahres 1912 geboren, und erst damals kam es mir richtig zu Bewusstsein, dass nicht der Ort oder die Leute schuld waren, sondern ich allein. Ich hatte mich so ausschliesslich mit den Problemen der Alice La Trobe-Bateman und ihrer anscheinend unglücklichen Ehe beschäftigt, dass ich darüber vergessen hatte, Alice Evans, das heisst, Mensch zu sein. Als Mildred geboren wurde, war ich sehr krank und erst dadurch lernte ich die Leute der kleinen Stadt richtig kennen. Mildred war zehn Tage überfällig; die Temperatur auf meiner Veranda war 45° Celsius; die zwölf Nachbarskinder waren schrecklich laut; ich war schon tagelang sehr krank gewesen, und da stürzte auch noch zu allem Überfluss unsere Senkgrube ein. Ich malte mir in Gedanken aus, wie Dorothy, die damals 2 1/2 Jahre alt war, dort herumlaufen und in die Senkgrube fallen würde. Walter war zu nichts zu gebrauchen. Er hatte sich gerade wieder einmal zu seinen Amtspflichten auf und davon gemacht. Ich hatte eine tüchtige kleine jüdische Krankenschwester, die es meinetwegen mit der Angst kriegte und immer wieder nach dem Arzt telefonierte, der sein Kommen verzögerte. Plötzlich öffnete sich die Tür, und die Frau des Kneipenwirts kam ohne anzuklopfen herein. Sie sah mich bloss einmal an, ging einfach ans Telefon und verfolgte den Arzt von Haus zu Haus, bis sie ihn erwischte und auf der Stelle zu mir beorderte. Dann nahm sie Dorothy auf den Arm, nickte mir beruhigend zu und versicherte, sie würde sich ihrer schon annehmen und verschwand. Ich bekam Dorothy drei Tage lang nicht zu sehen. Ich machte mir auch nicht viel daraus, ich war viel zu krank. Mildred war eine Zangengeburt, und ich hatte zwei schwere Blutungen. Dank guter Pflege kam ich durch. Mein Zustand hatte sich schnell herumgesprochen, und es wurden mir so viele gute Sachen ins Haus geschickt, und so viele Freundlichkeiten erwiesen, dass ich dafür ewig dankbar bin. Rahmspeisen, Obstkuchen, Portwein, frisches Obst strömten geradezu ins Haus. Morgens erschienen Frauen die meine Wäsche wuschen, aufkehrten, abstaubten und sich zu mir setzten, um für mich zu nähen und zu stopfen. Sie lösten die Schwester bei meiner Pflege ab. Sie luden meinen Mann zu sich ins Haus, damit er nicht im Weg stand, und es wurde mir plötzlich klar, dass die Welt voller reizender Menschen ist, und dass ich mein Leben lang blind gewesen war. Ich war wieder etwas tiefer ins Wesen der Menschheit eingedrungen.

Um diese Zeit fing es jedoch an, mit meinen Eheschwierigkeiten wirklich ernst zu werden. Die Leute fanden allmählich heraus, wer Walter Evans wirklich war. Am neunten Tag nach Mildreds Geburt stand ich auf, ohne irgendeine Schwester oder sonstige Hilfe zu haben. Die Frau des Küsters ertappte mich an diesem Tag zu ihrem Entsetzen beim Wäschewaschen, und da sie wusste, dass ich zehn Tage vorher beinahe gestorben wäre, suchte sie Walter Evans auf und las ihm tüchtig die Leviten. Sie richtete damit nichts aus, aber sie hatte Verdacht geschöpft, beobachtete mich von da an genauer und freundete sich mit mir noch mehr an. Seine Anfälle nahmen ein immer ernsteres Ausmass an, aber das Merkwürdige dabei war, dass er (abgesehen von wilden, unbeherrschten Wutanfällen) keinerlei Untugenden irgendwelcher Art hatte. Er trank nie; er fluchte nie; er spielte nie. Ich war die einzige Frau, für die er sich je interessiert, und die einzige, die er je geküsst hatte, und ich glaube, das blieb auch so, bis er vor einigen Jahren starb. Trotz alledem konnte man einfach mit ihm nicht leben, und schliesslich wurde es geradezu gefährlich, mit ihm im gleichen Haus zu sein. Eines Tages kam die Küsterfrau zu mir und fand mein Gesicht schlimm verbeult. Ich war so krank und matt, und sie war so nett und gut, dass ich ihr gestand, mein Mann habe ein Pfund Käse nach mir geworfen und mich mit voller Wucht mitten im Gesicht getroffen. Sie ging wieder nach Hause, und bald darauf trat der Bischof ein. Ich wünschte, ich könnte in diesen Zeilen die Freundlichkeit, die Güte und das Verständnis des Bischofs Sanford wiedergeben. Zum ersten Mal war ich ihm begegnet, als er zu einer Konfirmation zu uns herunterkam. Ich hatte Abendbrot serviert und war dann in der Küche beim Tellerabwaschen. Plötzlich merkte ich, wie hinter mir jemand abtrocknete; ich drehte mich nicht gleich um, weil ich glaubte, es wäre bloss eine von den Gemeindefrauen. Dann stellte ich aber zu meiner Überraschung fest, dass es der Bischof war, und was er da tat, war durchaus bezeichnend für ihn. - Bei seinem diesmaligen Besuch gab es viele Besprechungen, und schliesslich wurde Walter Evans erneut Gelegenheit geboten, sich zu bewähren. Wir zogen sofort in eine andere Gemeinde um. Darüber freute ich mich sehr, denn das Pfarrhaus war viel netter. Es handelte sich um eine grössere Ortschaft und ich war näher bei Ellison Sanford, einem der entzückendsten Menschen und einer der treuesten Freundinnen, die ich je hatte.

Mein Allgemeinbefinden besserte sich, und trotz der fortdauernden Wutausbrüche nahm das Leben für mich etwas mehr Farbe an. Ich war näher der Stadt, in welcher der Bischof und seine Frau lebten und bekam sie öfter zu sehen. Ich fand mehr Leute innerhalb der Gemeinde, die meine Sprache sprachen, aber es war doch in mancher Hinsicht eine schlimme Zeit für mich, und im Herbst wurde ich wieder krank. Meine jüngste Tochter, Ellison, wurde für Januar erwartet. Im Lauf einer seiner Anfälle warf mich mein Mann die Treppe hinunter, was, wie sich herausstellte, von schlechten Folgen für das Kind war. Sie war nach der Geburt sehr zart und was man im Volksmunde ein «blaues Baby» nennt, d.h. sie hatte eine undichte Herzklappe; jahrelang glaubte man nicht, dass ich sie durchbringen würde. Es gelang mir aber, und heute ist sie das stärkste von den drei Mädchen.

Danach verschlimmerte sich die Lage immer mehr. Jeder wusste, dass im Pfarrhaus allerhand los war und jeder tat sein Möglichstes, um mir zu helfen. Ein sehr nettes Mädchen erbot sich, zu mir zu ziehen und bei mir in Untermiete zu wohnen, bloss damit ich jemanden um mich hätte; obwohl ihr dabei allmählich angst und bange wurde, hielt sie doch bis zum Schluss bei mir aus. Der Acker neben dem Pfarrhaus wurde Tag für Tag immer wieder umgepflügt, und als ich einmal (aus Neugierde) den Mann, der gerade beim Pflügen war, nach dem Grund dieser anhaltenden Betätigung fragte, da sagte er mir, eine Gruppe von Männern hätte beschlossen, dass ich stets jemanden in Rufweite haben sollte und deshalb lösten sie sich beim Pflügen ab. Die Mädchen im Telefonamt erfassten die Lage und machten es sich zur Gewohnheit, mich in gewissen Abständen anzurufen, um festzustellen, wie es mir ging. Der Arzt, der mich behandelt hatte, als Ellison geboren wurde, machte sich grosse Sorgen um mich; ich musste ihm versprechen, das grosse Küchenmesser und die Axt jede Nacht unter meiner Matratze zu verstecken. Es verbreitete sich das Gerücht, dass Walter Evans geisteskrank sei. Ich weiss noch, dass ich eines Nachts aufwachte und einen Mann eiligst aus meinem Zimmer hinaus und treppab huschen hörte. Es war bloss der Arzt, der mal nachsehen wollte, ob es mir gut ging. Wie man sieht, war ich also wiederum von Freundlichkeit umgeben. Ich war aber tief beschämt, und mein Stolz war ernstlich verletzt.

Eines Morgens rief mich eine Freundin an und sagte, sie würde mich mit den drei Kindern abholen, um den Tag mit ihr zu verbringen. Wir gingen hin und verlebten dort sehr schöne Stunden. Als ich aber wieder nach Hause kam, stellte ich fest, - dass man Walter Evans nach San Francisco geschickt und einem Nervenspezialisten und praktischen Arzt zur Beobachtung übergeben hatte, um herauszufinden, ob er geistig normal war oder nicht. Zu meinem Glück entschied der Arzt, dass er bösartig, aber nicht geisteskrank war, und dass er unter nichts Ernsterem litt als einem unbeherrschten Temperament. Inzwischen war Ellison ernstlich an «cholera infantum» erkrankt, und man machte mir keine Hoffnung, dass sie überleben würde. Ich erinnere mich noch so genau an einen brennend heissen Sommertag während jener schrecklichen Zeit. Ellison lag todkrank auf einer Steppdecke auf dem Fussboden, während die anderen beiden Kinder im Hof eines Nachbarn spielten. Mein Arzt fuhr vor und kam mit einem kleinen Kind auf dem Arm ins Haus, gefolgt von einer hochgewachsenen, hübschen Frau, die so aussah, als sei sie reif fürs Krankenhaus. Er sagte, er habe mir das Kind zur Pflege gebracht und fragte, ob ich wohl so gut sein würde, die Mutter zu Bett zu bringen und für sie ebenfalls zu sorgen. Natürlich tat ich das und drei Tage lang hatte ich zwei kranke Babys zu betreuen und dazu eine kranke Frau, die zu krank, zu elend und zu deprimiert war, um für ihr eigenes Kind zu sorgen. Ich tat, was ich konnte, aber das Baby starb in meinen Armen. Die Kleine war nicht zu retten, trotz vorzüglicher ärztlicher Behandlung und obwohl ich selbst eine gute Krankenpflegerin bin. Dieser Arzt war ein weiser Mann; er wusste genau, dass ich in meiner eigenen, häuslichen Situation alle Hände voll zu tun hatte, dass ich aber noch zu lernen hatte, dass es auch anderen Leuten so schlecht ging wie mir, und dass ich zu einem weit höheren Energieaufwand fähig war, als ich mir selbst zutraute. Ich staune immer wieder über die Weisheit und das tiefe psychologische Wissen dieser Kleinstadtpraktiker. Sie kennen die Menschen; sie opfern ihr Leben auf; ihre Geschicklichkeit beruht auf einer vielseitigen Erfahrung; sie handeln in Notfällen schnell und richtig, denn sie können sich auf niemand anders als auf sich selbst verlassen. Ich persönlich fühle mich den Ärzten - in Stadt und Land - zu tiefstem Dank verpflichtet, die mir sowohl Freunde als auch Helfer waren.

Nun riet man mir, Ellison nach San Francisco ins Kinderkrankenhaus zu bringen, um zu sehen, ob man ihr irgendwie helfen konnte. Ellison Sanford nahm die beiden anderen Kinder zu sich, obwohl sie vier eigene Kinder hatte, und ich reiste mit dem Baby nordwärts. Die Ärzte im Krankenhaus sagten mir, sie könne unmöglich am Leben bleiben; ich musste sie dortlassen und zurückkehren, um nach meinen beiden anderen Kindern zu sehen. Ich will den Ernst einer solchen Lage nicht weiter ausmalen. Wer Kinder hat, wird mich verstehen. Ich hatte nie erwartet, sie wiederzusehen, aber wunderbarerweise erholte sie sich und wurde mir von ihrem Vater zurückgebracht, der seinerseits mit einem positiven Gesundheitsbefund aus der Beobachtung entlassen worden war. Das ist nicht so komisch, wie es vielleicht klingt, nicht wahr? Ich jedenfalls bin nicht zum Lachen aufgelegt, wenn ich darüber spreche.

Ein sehr merkwürdiges und schwieriges Jahr stand uns jetzt bevor. Es war dem Bischof nicht möglich, Walter eine neue Pfarre zu übertragen. Die geringen Mittel, die wir hatten, waren nahezu erschöpft, und mein sehr bescheidenes Einkommen war infolge des Weltkriegs erheblich zusammengeschrumpft. Als Walter nach San Francisco ging, blieb ich mit den Kindern und einer Menge Rechnungen zurück. Er hatte gar kein Verhältnis zum Geld; was ich ihm geben konnte oder was aus seinem eigenen Gehalt für laufende Rechnungen vorgesehen war, verausgabte er für unwesentliche Luxusgegenstände. Er brachte es fertig, von zu Hause wegzugehen, um die monatliche Kolonialwarenrechnung zu bezahlen, und dann mit einem Grammophon wiederzukommen.

Solange ich lebe, werde ich die ausserordentliche Freundlichkeit des Mannes nicht vergessen, dem das Kolonialwarengeschäft in der kleinen Stadt gehörte, wo ich wohnte, als Walter seine letzte Pfarrstelle in der Diözese von San Joaquin innehatte. Wir schuldeten ein paar hundert Dollar für Kolonialwaren, obwohl ich davon gar nichts wusste. Im Ort hatte sich natürlich die Nachricht von allem verbreitet, was vorgefallen war. Am Morgen nachdem Walter nach San Francisco geschickt worden war, klingelte das Telefon; es war das Kolonialwarengeschäft. Der Eigentümer war Jude und ein ziemlich gewöhnlich aussehender Jude. Ich hatte nie etwas für ihn getan, ausser dass ich höflich zu ihm war und durchblicken liess, dass ich nichts gegen die Juden hatte. Irgendwelchen Antisemitismus hat es in Grossbritannien nie gegeben, besonders nicht in meiner Jugendzeit. Einige unserer grössten Männer sind Juden gewesen, wie z.B. Lord Reading, der Vizekönig von Indien, und andere. Dieser Mann bat mich also telefonisch um meine Bestellung. Ich fragte, wieviel wir ihm schuldeten, und er sagte «über zweihundert Dollar»; er mache sich aber keine Sorgen darum, denn er wisse, dass die Schuld bezahlt würde, selbst wenn es fünf Jahre dauern sollte. Dann fügte er hinzu: «Wenn sie mir keine Bestellung geben, dann werde ich ihnen einfach schicken, was sie voraussichtlich gerade brauchen, aber das würde ihnen doch nicht recht sein, nicht wahr?» Also machte ich eine Bestellung. Als die Sachen

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.